260 S., gebunden

€ 19.90

ISBN 978-3-85286-174-6

John Champlin Gardner

Grendel

Roman • exquisite corpse 3

DER Klassiker der Phantastischen Literatur.
Strahlender Held Beowulf? – Eine Gegendarstellung wird fällig.

In diesem Klassiker der phantastischen Literatur erscheint die altenglische Sage unter vertauschten Vorzeichen.

Gardner schreibt aus der Perspektive Grendels, des Monsters, eines wilden und einsamen Wesens, das mit seiner Mutter in einer Höhle lebt. Grendel ist hin- und hergerissen zwischen seinem wilden, animalischen Tötungstrieb und einem herausragenden Verstand, der ihn zur Sprache und zu einem komplexen Verständnis der Welt befähigt.
Er wird zum Beobachter der Veränderung seiner Umgebung durch die Menschen, als diese den Wald nahe seiner Höhle besiedeln.

In der Beobachterposition demaskiert Grendel die Menschen in ihrem Widerspruch zwischen Sein und Schein. Grendel betrachtet ihr Tun, das zumeist in Krieg mündet, hört Traktate über die Welt, die von unangepassten Wesen bedroht werde. Erzählkunst, erkennt Grendel, verändert alles.
Dabei geht es Gardner nicht allein um das Thema Gewalt, sondern auch um die Ausformungen staatlicher Macht, um die Herausbildung gesellschaftlicher Ordnung mit all ihren Schattenseiten und um die Macht der Legenden und Mythen, die alle Zeit überdauern.

Gardners Meisterwerk erzählt von Mächtigen und Ohnmächtigen, von Tätern und Opfern, es erzählt aber auch von den Möglichkeiten der Literatur und der Fantasie – mit einer Sprachgewalt, die ihresgleichen sucht.

Der alte Widder steht da und äugt mit dümmlich triumphierender Miene über die Felsstürze herab. Ich blinzle. Ich reiße entsetzt die Augen auf. »Verschwinde!«, zische ich. »Lauf zu deiner Höhle zurück, lauf zu deinem Kuhstall zurück – egal was.« Er legt den Kopf auf die Seite wie ein ältlicher, begriffsstutziger König, wägt die Blickwinkel ab, beschließt, mich nicht weiter zu beachten. Ich stampfe auf. Ich hämmere mit meinen Fäusten auf den Boden ein. Ich schleudere einen schädelgroßen Stein nach ihm. Er rührt und rührt sich nicht vom Fleck. Ich drohe dem Himmel mit meinen zwei haarigen Fäusten und stoße ein so unsägliches Geheul aus, dass das Wasser zu meinen Füßen zu jähem Eis erstarrt und sogar mich selbst ein gewisses Unbehagen beschleicht. Aber der Widder bleibt stehen; die Brunstzeit wirft ihre Schatten voraus. Und so beginnt das zwölfte Jahr meines idiotischen Krieges.
Wie qualvoll das alles ist! Wie stumpfsinnig und stupid!
»Ach, schon gut«, seufze ich und zucke mit den Achseln, zottle zu den Bäumen zurück.
Glaubt nicht, mein Gehirn würde, wie das des Widders, von den Wurzeln eines Gehörnes zusammengequetscht. Während seine Flanken nur so beben, starrt er mit steinernen Augen in die Welt, begafft, was er von ihr wahrzunehmen vermag, und spürt, wie sie in ihm hoch wogt, seine Brust füllt, wie die Schneeschmelze ausgetrocknete Bachbetten füllt, seine abstoßend dicken, schiefhängenden Hoden kitzelt und sein Gehirn in dieselbe Unrast versetzt, die ihn schon letztes Jahr um diese Zeit peinigte, und vorletztes Jahr, und das Jahr zuvor. (Er hat sie samt und sonders vergessen.) Sein Hinterteil zittert wie üblich vor Erregung, drängt ihn, freudig und unbekümmert alles zu bespringen, was sich gerade in der Nähe befindet, den Sturm, der im Westen schwarze Wolkenknäuel aufeinandertürmt, irgendeinen vor sich hinfaulenden, gefügigen Baumstrunk, irgendein spreizbeiniges Mutterschaf. Ich wende mich angewidert ab. »Warum können diese Kreaturen nicht endlich ein wenig Würde an den Tag legen?«, frage ich den Himmel. Der Himmel sagt nichts, wie es vorherzusehen war. Ich ziehe ein Gesicht, zeige einen trotzig hochgereckten Mittelfinger und deute einen obszönen Fußtritt an. Der Himmel straft mich mit Verachtung, auf immer unbeeindruckt. Ihn hasse ich auch, genauso wie ich diese geistlos grünenden Bäume hasse, diese Vögel mit ihrem Gezeter und Gezirp.
Nicht, dass ich mich selber mit dem Gedanken zum Narren halte, ich wäre etwas Erlauchteres. Behüte. Monster ohne Sinn und Zweck, lächerliches, im Dunklen kauerndes Ungeheuer, das nach toten Männern, ermordeten Kindern, misshandelten Kühen stinkt. (Ich empfinde weder Stolz noch Scham, müsst ihr wissen. Ein abgestumpftes Opfer mehr, das gehässig nach Jahreszeiten schielt, die nie dazu bestimmt waren, beobachtet zu werden.) »Ach, du Ärmster, du traurige alte Missgeburt!«, schreie ich und umarme mich selbst und lache und lasse die Salztränen kullern, he he! bis ich keuchend und schluchzend hinschlage. (Das meiste hiervon ist gestellt.) Die Sonne kreiselt seelenlos durch den Äther, die Schatten werden wie nach Plan länger und kürzer. Kleine Vögel legen unter schrillem Kreischen Eier. Zarte Gräser lugen, in unschuldiges Gelb gewandet, aus dem Boden hervor: die Kinder der Toten. (Genau hier, auf diesem geradezu ungehörigen Grün, habe ich einst, als der Mond in Wolken begraben lag, dem verschlagenen alten Adelgard den Kopf vom Rumpf gerissen. Hier, wo die erschreckend winzigen Rachen der Krokusse den Köpfen neugeborener Wasserschlangen gleich nach der Spätwintersonne schnappen, hier habe ich die alte Frau mit den eisengrauen Haaren umgebracht. Sie schmeckte nach Urin und nach Milz, und ich spuckte sie in hohem Bogen wieder aus. Süßer Mulch für gelbe Blüten. Solcherart gestalten sich die drögen Erinnerungen eines Schattenschleichers, Weltenwallwanderers, Rumtreibers auf der Erde rauhnachtgrausem Rand.) »Waaah!«, schreie ich, während ich dem Himmel hämisch schnell noch ein Gesicht schneide, um dann düstere Betrachtungen über den gegenwärtigen Stand der Dinge anzustellen, voll Bitterkeit an ihren einstigen Lauf zurückzudenken und wie der letzte Blödhammel die Netze für morgen auszuwerfen. »Aargh! Uaah!« Ich wanke, zerschmettere Bäume. Verunstalteter Sohn von Wahnsinnigen. Die dickstämmigen, ganz in morgendliches Gelb getauchten Eichen glotzen mit entwaffnender Schlichtheit auf mich herab. »Nichts für ungut«, sage ich, ein schreckliches, speichelleckerisches Lächeln auf den Lippen, und tippe an einen imaginären Hut.
Es ist natürlich nicht immer so gewesen. Gelegentlich war es noch schlimmer.
Macht nichts, macht nichts.
Die Hirschkuh auf der Lichtung bleibt beim Anblick meiner Abscheulichkeit wie vom Donner gerührt stehen, entsinnt sich dann ihrer Beine und ist auch schon auf und davon. Das ärgert mich. »Blinde Vorurteile!«, brülle ich in das zerfächerte Sonnenlicht, wo sie noch vor einer halben Sekunde stand. Ich ringe die Hände, mache ein langes Gesicht. »Ach, welche Ungerechtigkeit doch in allen Dingen herrscht«, sage ich und schüttle den Kopf. Es ist eine Tatsache, dass ich noch nie in meinem Leben einen Hirsch oder eine Hirschkuh getötet habe und dies auch niemals tun werde. Kühe haben mehr Fleisch und sind, da man sie in Pferche sperrt, auch wesentlich leichter zu fangen. Vielleicht stimmt es, dass ich eine ganz, ganz leise Abneigung gegen Hirsche hege, aber keine größere Abneigung, als ich sie gegen andere Geschöpfe in der Natur hege – die Menschen nicht mitgerechnet. Aber ebenso wie Kaninchen und Bären und sogar die Menschen, sind Hirsche, was meine Rasse anbelangt, außer Stande, feine Unterschiede zu erkennen. Darin liegt ihre Glückseligkeit: sie sehen alles Leben, ohne es näher in Augenschein zu nehmen. Sie sind in ihm begraben wie Krabben im Schlick. Die Menschen natürlich ausgenommen. Ich bin nicht, jetzt noch nicht, dazu aufgelegt, von den Menschen zu sprechen.
So, sage ich mir, ist es Tag für Tag und Zeitalter für Zeitalter um mich bestellt. In die todbringenden Bahnen des Mondes und der Gestirne gesperrt. Ich schüttle den Kopf, murmle auf dämmerdunklen Pfaden finster vor mich hin, unterhalte mich mit dem einzigen Freund und Trost, den diese Welt zu bieten hat, meinem Schatten. Wildschweine trampeln lärmend durchs Unterholz davon. Ein Vogeljunges fällt unter verschrecktem Piepsen mit den Füßen nach oben auf meinen Weg. Verdrießlich lachend lasse ich es liegen, des barmherzigen Himmels mildtätige Gabe für irgendeinen kranken Fuchs. So ist es Zeitalter für Zeitalter um mich bestellt. (Ich rede und rede. Spinne ein Gespinst aus Worten, fahle Wände aus Träumen, zwischen mich und alles, was ich sehe.)
Unerbittlich machen sich nun die ersten Regungen des Frühlings bemerkbar (seit ich den Widder gesehen hatte, war mir klar, dass er nicht mehr lange auf sich warten lassen würde), und selbst in meiner Behausung unter der Erde, wo kein Licht das Dunkel durchdringt außer dem Rot meiner Feuer und nichts sich bewegt außer den flackernden Schatten an meinen feuchten Felswänden oder umherhuschenden Ratten auf meinen Knochenhaufen oder dem fetten, fäulniszerfressenen Körper meiner Mutter, der sich – von Nachtmahren, alten Erinnerungen geplagt – wie so oft rastlos von einer Seite auf die andere wälzt, werde ich in meiner Brust die Regungen der Knollen in dem schwärzlich-süßen Waldboden über mir gewahr. Ich spüre meinen Zorn zurückkehren, unsichtbarem Feuer gleich größer und größer werden, und schließlich, wenn meine Seele nicht länger zu widerstehen vermag, mache ich mich – so mechanisch wie sonst etwas – mit gegen meinen Willen geballten Fäusten und knurrendem Magen und unbeseelt wie Wind auf den Weg nach oben, auf die Suche nach Blut. Ich schwimme durch die Feuerschlangen hinauf, bösartige, brünstige Walschwänze, die durch das leuchtende Grün des Pfuhles geistern, und ich tauche prustend zwischen aufgewühlten Wellen und Rauchschwaden auf. Ich krieche ans Ufer und schnappe nach Luft.

Scheiße, die Menschen!
Dietrich Kuhlbrodt

In diesem Klassiker der phantastischen Literatur erscheint die altenglische Sage unter vertauschten Vorzeichen. Gardners Meisterwerk erzählt von Mächtigen und Ohnmächtigen, von Tätern und Opfern, es erzählt aber auch von den Möglichkeiten der Literatur und der Fantasie – mit einer Sprachgewalt, die ihresgleichen sucht.
www.seite-4.com, 07.05.2009

Es ist eine Lektüre, die Zeit und Aufmerksamkeit braucht: Etwas langwierig, aber zugleich sehr eindrücklich demaskiert Grendel aus seiner Beobachterposition die Unzulänglichkeit der Menschen. Es geht um Schuld, (Staats-)Gewalt, Einsamkeit, Hass, Verzweiflung – allesamt zutiefst menschliche Erfahrungen.
Wiener Journal 25/2009

In Grendel, einem durchaus modern denkenden Wesen, reflektiert Gardner über die kriegerische Natur des Menschen und dessen hochtrabende Begründungen für das Streben nach Macht, über die Kraft des Erzählens und den Sinn der Existenz; und auch schwarzer Humor kommt dabei nicht zu kurz.
Der Standard (online), 09.03.2009

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