Irene, 15, hat das KZ überlebt, sie kommt zurück in die Stadt und muss bald feststellen, dass sich an Hass und Misstrauen seitens der Bevölkerung nichts geändert hat. Niemand will von ihrer Vergangenheit wissen, man betrauert den verlorenen Krieg, fühlt sich vom
Führer betrogen. Auch von Irene wird erwartet zu schweigen.
Einer der besten Romane zur psychologischen Situation nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes in Österreich.
Nach der Befreiung aus dem KZ befreundet sich Irene im amerikanischen Lazarett mit Michael, einem ehemaligen Hitlerjungen, der ihr von der „Wolfsbande“, erzählt; seine
Schilderungen von Kameradschaft und Zusammengehörigkeit faszinieren sie. Irenes Problem ist ihre Ortlosigkeit. Für sie und ihre Erlebnisse ist nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes kein Platz.
In der kleinen Pension ihrer Tante findet Irene als kostenloses Hausmädchen eine lieblose Unterkunft und wird ab sofort mit dem ungehemmten Fortleben der NS-Ideologie konfrontiert. In diesem Ambiente, wo keiner dem anderen traut, ist Irenes Lager-Vergangenheit die eigentliche Schande, die es zu verbergen gilt. Ebenso naheliegend ist es, dass die kriminellen Umtriebe einer übrig gebliebenen HJ-Gruppe unter der Schlagzeile „Missbrauchte Pfadfinderideale“ Platz finden. Es ist genau jene Gruppe, der Michael angehört – und auch der junge Toni, in den sich Irene nach einigen geheimen Treffen verliebt hat. Toni will aussteigen aus der verschwörerisch organisierten
Gruppe, in der ein skrupelloser „Führer“ ein autoritäres Kommando führt. Die beiden wollen fliehen.
Die Art und Weise, wie Hertha Pauli in diesem Roman die psychologischen Trennlinien zwischen den verschiedenen Motivationen und Standorten der jugendlichen und erwachsenen Akteure setzt, ist ein finaler Kommentar zum Umgang mit der NS-Vergangenheit, vorgelegt im Jahr 1959. Damals wurde es wurde mit Heinrich Bölls „Haus
ohne Hüter“ verglichen.
Fragebogen haben mir immer Schwierigkeiten bereitet. Meine Mutter hatte mich aus der Schule genommen, als ich den ersten nach Hause brachte, in dem die Abstammung der Eltern auszufüllen war. Seitdem konnte ich Formulare nicht ausstehen und fürchtete mich vor Fragen aller Art. Auch im Büro des amerikanischen Spitals wusste ich nicht recht, was ich angeben sollte, als es um meine Entlassung ging. Es half nicht einmal, dass man versuchte, deutsch mit mir zu reden.
Die Sache kam erst in Schwung, als Tante Liese selbst kam, um nach dem Rechten zu sehen. Ich hätte sie kaum erkannt. Vier Jahre lang hatte ich das sogenannte »Tantchen« meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Sie schien mir nun viel kleiner – wahrscheinlich nur deshalb, weil ich selber gewachsen war. Dafür war sie dicker geworden. »Vom Kartoffel- und Rübenfressen«, erklärte sie mit einem kurzatmigen Seufzer. Dann nahm sie energisch in die Hand, was für mich zu erledigen war.
Wenn ich gesund sei, hörte ich, und traute meinen Ohren kaum, müsse ich natürlich sofort zu ihr ziehen. Ein Zimmer sei frei, zu essen gäbe es ja nun genug, wenn man seine Beziehungen hätte, ich könne ihr helfen, und sie hätte sich immer schon eine Tochter im Haus gewünscht. »Klar, nicht?«
Ich war sprachlos. Es klang alles viel netter, als ich das Tantchen in Erinnerung hatte. Sie entschuldigte sich sogar, mich nicht früher besucht zu haben: Es hatte so viele Laufereien gegeben, und zwar wegen ihrer Entnazifizierung. »Verdanke ich alles dem Hugo«, setzte sie ein wenig verbittert hinzu. Onkel Hugo sei, natürlich nur der Not gehorchend, früher auch einmal in der Partei gewesen. War aber nun wieder ganz in Ordnung – schon deshalb, weil er meinem Vater behilflich gewesen war, versicherte Tante Liese.
Sie schnaufte aus und wartete. Sollte ich mich bedanken? Ich schwieg. Das schien sie zu freuen. »Hast recht, Kind«, fuhr sie fort, »darüber wollen wir gar nicht mehr reden. Ich kann alles verstehen, weißt du. War zum Schluss selber eingesperrt, weil ich vor allen Leuten gesagt habe, dieser Schwarzhandel sei einfach ein Skandal. Und das war er auch.« Da kam gerade meine amerikanische Schwester vorbei, und Tante Liese verstand es, ihr ein paar englische Worte zu sagen. »Muss man heute können«, flüsterte sie mir nachher stolz zu, »besonders in einem Betrieb wie dem unseren.«
Dann begann sie eingehend von ihrer Pension zu erzählen. Sie ging gut, aber es war eine Plage mit den Hausgehilfinnen. Erst bekam man sie nicht und dann liefen sie gleich wieder weg, meist mit einem von der Besatzung, der womöglich auch noch schwarz war. Mit einer war kürzlich der Rest des Familienschmucks verschwunden.
Mir ging ein Licht auf: Also daher pfiff das Mitleid. Ich sollte wohl nicht so sehr Haustochter wie Hausmädchen werden. Auch gut. Nur hier heraus. Über meine zukünftigen Pflichten wurde noch nicht geredet. Etwas anderes, worüber auch nicht geredet werden sollte, war meine Lagervergangenheit, und vor allem deren Grund.
»Dass dein Vater nicht arisch war, schadet ja heute nichts mehr – im Gegenteil«, meinte das Tantchen. »Man soll’s bloß den Leuten nicht auf die Nase binden. KZ und so, das hört doch keiner gerne. Also Schwamm drüber. Klar, nicht?«
Ich nickte und dachte an die Geschichte von meinem Kinderlandverschickungslager, die ich Michael erzählt hatte. Auch die Adresse der Pension Bauernfeind hatte er von mir …
Das Familienheim lag in einem Vorort. Zum Abschied beschrieb mir Tante Liese genau den Weg, den ich nehmen musste, und ich schrieb mir die Straßennamen sorgfältig auf. Trotzdem konnte ich mich im Freien erst kaum zurechtfinden. Mir zitterten die Knie, als es so weit war und ich die Anstalt verließ; ich hatte es verlernt, mich außerhalb von Gittern zu bewegen. Die Kleider, die mir ein Hilfskomitee gespendet hatte, saßen fremd und ungewohnt auf mir. Das Täschchen – auch vom Komitee – mit dem neuen Waschzeug und den verschiedenen Papieren, die man mir gegeben hatte, wog so schwer, als sei es mit Blei gefüllt. An der ersten Ecke musste ich mich an der Hauswand festhalten, um nicht umzufallen.
Wenn Vorübergehende sich nach mir umblickten, erschrak ich und drehte den Kopf weg. Es fiel mir schwer, die Straße zu über-queren, denn den Verkehr war ich schon gar nicht gewöhnt. Aufatmend landete ich drüben an der angegebenen Haltestelle der Straßenbahn, das Fahrgeld, das mir Tante Liese abgezählt vorgestreckt hatte, krampfhaft in der Hand.
Fixpoetry - Wir reden über Literatur
Die österreichische Trümmerliteratur wurde lange marginalisiert. Es hätte sie gar nicht gegeben, die schriftstellerische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Krieg hätte erst in den 1960-Jahren eingesetzt, lautete die gängige These. Die Gründe für ihr Entstehen sind wohl die gleichen wie jene für die mangelnde öffentliche Wahrnehmung der in den 1940er und 50er-Jahren verfassten Texte: viele von ihnen entstanden im Exil und schafften es nicht im deutschsprachigen Raum verlegt zu werden. Oder sie wurden zwar verlegt, aber kaum - oder verzerrt - rezensiert. Denn die Herren über den literarischen Kanon waren vielfach ehemalige Nationalsozialisten.
Ein Schatz unter diesen Zeugnissen und zugleich Opfern des misslungenen Neubeginns nach 1945 wurde jetzt vom Milena Verlag gehoben: „Jugend nachher“ von Hertha Pauli, geschrieben im amerikanischen Exil und erschienen 1959 im Zsolnay Verlag. Der Roman beginnt in den USA, wo die Ich-Erzählerin Irene einer entfernten Verwandten gegenüber den Satz „Ich habe ihn umgebracht“ ausruft und dann ihre Erlebnisse kurz nach Kriegsende in der amerikanischen Besatzungszone Österreichs schildert.
Die jugendliche Irene, gerade aus dem KZ befreit, lernt im amerikanischen Spital einen Burschen namens Michael kennen, der beim Hantieren mit einer Handgranate seinen rechten Arm und ein Auge verloren hat. Völlig allein – ihre Familie ist tot – freundet sie sich mit ihm an und wird – verschweigend, dass sie im KZ war - in seinen Freundeskreis aufgenommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben macht Irene die Erfahrung von Gemeinschaft unter Gleichaltrigen. Nach und nach stellt sich dieser Freundeskreis aber als eine Räuber- und Mörderbande heraus, die sich um einen skrupellosen „Führer“, der sich „Wolf“ nennt, schart. Ausgerechnet in dessen Liebling, den hübschen Toni, verliebt sich Irene, während der sich ihr aufdrängende Michael ihr kleines Umfeld zu manipulieren beginnt. Als Toni aus der Gruppe aussteigen will, wird er ermordet. Im darauffolgenden Prozess bricht Michael erst zusammen als er erfährt, dass Irene im KZ war und er – wie er sagt: eine Halbjüdin zur Mutter seiner Kinder machen wollte. Er erhängt sich in seiner Zelle. Der Roman endet wieder in den USA, wo sich Irene die Schuld am Tod Michaels gibt.
Hertha Pauli lässt das gesamte menschliche Panorama der Nachkriegsgesellschaft antreten und demonstriert im Zusammenspiel ihrer Figuren das Scheitern des ideologischen Neubeginns. Schon in der ersten Begegnung Irenes mit Michael zeigt sich die Schieflage zwischen den beiden Jugendlichen. Zwei Versehrte humpeln aufeinander zu und lachen über ihre scheinbar gemeinsame Lage.
Irenes Vergangenheit ist im Gegensatz zu der von Michael eine prekäre. Sie, die KZ-Überlebende, muss ein Geheimnis hüten, nicht er. Das Leid der Mehrheit bildet die einzig gültige Wirklichkeit, auch wenn diese Mehrheit im Unrecht ist. Sie solle das KZ lieber für sich behalten, rät Tante Liese. In der Pension von Liese und Hugo Bauernfeind, Bekannten ihrer Mutter, wird Irene als Haushaltshilfe aufgenommen. In den abendlichen Gesprächen der Pensionsgäste überlagern sich die Wirklichkeiten. Eine Kriegswitwe, eine Flüchtlingsfrau und ein Stalingrad-Veteran versammeln sich um den Hausherrn, der über die neuesten Aktivitäten krimineller Jugendlicher aus der Zeitung vorliest.
Die Tätergesellschaft ist mit sich selbst und ihrer Gegenwart beschäftigt. Das große Verbrechen, das noch wenige Monate zuvor im Gange war, wird ausgeblendet. Nicht das ist das große Unglück, sondern den Krieg verloren zu haben. Wenn die Jugend diesen weiterführt, wird das wohlwollend verharmlost.
Während die Erwachsenen sich unter die Besatzung ducken und die NS-Ideologie im Wohnzimmer zur giftigen Nostalgie werden lassen, wollen die fanatischen Jugendlichen diese Ideologie weiterleben. Für die Erwachsenen haben sie nur Verachtung über, denn die haben den Krieg verloren. So hat Michael, mittlerweile Angestellter einer Bank, keinerlei Skrupel mit Hilfe seiner Versehrtheit ein zynisches Spiel mit den Bauernfeinds und ihren Pensionsgästen zu treiben.
Während der Gerichtsverhandlung zeigt sich in der Aussage des Anführers Wolf woran sich die Bande, die sich als „Bund“ bezeichnet, orientiert. Mit ihr entlarvt Pauli im Rückschluss die kriminelle Basis des Nationalsozialismus wie auch die Täter-Opfer-Umkehr seiner Rhetorik.
Im Prozess-Teil des Romans offenbart sich das Fehlen der moralischen Maßstäbe, nach denen überhaupt Recht gesprochen werden kann. Als Zeugin Irene über die Wolfsbande aussagt und dabei erzählt wie sie KZ und Giftspritze überlebte und verschwieg, weist sie der Richter mit den Worten zurecht: „Das gehört nicht hierher.“ Auch der Zeitung, die über den Prozessverlauf berichtet, fehlen diese moralischen Maßstäbe. Der Artikel über Michaels Geständnis übernimmt bedenkenlos das Vokabular der Angeklagten.
Das Verschweigen und Ausblenden der Shoa tabuisierte einen Teil der Wirklichkeit und ermöglichte zwei Erzählungen der Vergangenheit, wovon die eine immer wieder für völkisches und faschistisches Denken fruchtbar gemacht werden kann.
Mit seiner realistischen Darstellung der Verhältnisse 1945 führt Hertha Paulis Roman „Jugend nachher“ an den Anfang dieser fatalen Entwicklung zurück.
Ö1, Ex libris, 10.11.2019
Viele literarische Werke widmen mit der Zeit des Nationalsozialismus. Viel seltener dagegen kann man über das Leben nach dessen Ende lesen. Die österreichische Schauspielerin, Journalistin und Autorin Hertha Pauli (1906 – 1973), selbst jüdischer Abstammung und nach dem Anschluss an Deutschland geflohen, beschäftigt sich in ihrem Roman „Jugend nachher“ aus dem Jahr 1959 mit den Nachwirkungen dieser bedrückenden Ära. Ein spannendes Thema, wie ich finde.
Als Ich-Erzählerin tritt die knapp fünfzehnjährige Irene auf. Sie ist als letzte Überlebende aus einem KZ befreit worden, ihre Familie wurde von den Nazis ermordet. In dem Lazarett, in dem sie wieder aufgepäppelt wird, lernt sie den gleichaltrigen Michael kennen, der ihr von seinen Freunden erzählt. Das ist für sie eine Gelegenheit, Anschluss zu finden und wo dazuzugehören. Dass sie Jüdin ist, verschweigt sie deshalb lieber.
Bei einem Picknick im Grünen lernt Irene Michaels Gang kennen. Eine Gruppe Jugendlicher, die es sich gutgehen lässt. Vor allem „Babyface“ Toni hat es ihr gleich angetan, den will sie unbedingt wiedersehen. Kann aber jemand, der sein Leben lang nur Krieg kennt, eine sorglose Jugend verbringen? Was es mit der Gruppe tatsächlich auf sich hat und wieso alle so viel Ehrfurcht vor ihrem Anführer Wolf haben, erfahren wir als Leser genauso wie Irene erst Stück für Stück. Es gibt ein ganzes Geflecht von Lügen zu durchleuchten, kaum einem kann sie glauben.
Ich habe den Eindruck, dass die Jungs sich die Nazis als Vorbild genommen haben. „Führerstruktur“ nennt das Wolf. Man sieht ja auch heute wieder, dass bei einigen einfache Antworten gut ankommen, und manch einer überlässt das Denken gern einem charismatischen Anführer. Die psychischen Auswirkungen auf die Jugendlichen, die für den Kriegseinsatz noch zu jung waren, arbeitet Hertha Pauli charakterlich sehr unterschiedlich und eindrücklich aus. Aber auch Irene erlebt einige dramatische Momente. Dass ich die intensiv miterleben kann, liegt hauptsächlich an dem anschaulichen Schreibstil der Autorin. Sie versteht es, immer wieder zu diesen Höhepunkten hinzuführen. Dabei lässt sie den Umgang untereinander, wie er damals üblich war, sehr lebendig werden. Da fühle ich mich mitten hineinversetzt in die Zeit direkt nach dem Krieg, ohne dass der Text in irgendeiner Weise angestaubt wirkt. Das macht „Jugend nachher“ zu einem eindringlichen, spannenden und kurzweiligen Leseerlebnis inklusive eines latenten psychologischen Gruselfaktors.
buecherkaffee.de, Marcus Kufner, Oktober 2019
Es ist ein düsterer, ein deprimierender Roman. Schweigen liegt über dem Land, über der Justiz, über den Medien. Die Menschen geben sich verstockt oder sie beäugen sich misstrauisch und missgünstig. Aber sie schließen nützliche Partnerschaften, um sich gegenseitig von jeglicher Schuld freizusprechen. So werden Kriegsverlierer zu Kriegsgewinnlern, und die Opfer stehen außen vor, verloren und vereinsamt und auf perfide Weise weiterhin verfolgt. Als Zeitdokument dieser Vertriebenen ist Hertha Paulis Roman von 1959 wichtig und erhellend.
(hier zur ganzen Rezension)
SR Bücherlese, 28.8.2019 Stefan Berkholz