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Buchreihen
Mit einem Nachwort von Martin Amanshauser
Mit zahlreichen Illustrationen
256 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, Leseband
€ 23.00
ISBN 978-3-903184-57-2
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
WIEN
Ludwig Hirschfelds charmanter feuilletonistischer Reiseführer entführt uns in das Wien der späten 1920er Jahre. Als im Sacher noch keine alleinsitzenden Frauen bedient wurden. Als es kaum Bierlokale in der Stadt gab. Als man sich noch Eintänzer beim Kellner bestellen konnte, wenn der Gatte keine Lust hatte.
Im Jahr 1927 erschien in der Buchreihe Was nicht im Baedeker steht ein köstlicher Wien-Reiseführer. Autor Ludwig Hirschfeld, der bereits in Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ Erwähnung findet, beschreibt in sehr launigem, charmantem Stil seine Stadt. In 19 Kapiteln wird uns das alte Wien nähergebracht: Essen und Trinken, die angesagtesten Lokale, Kunst & Kultur, die Parks, das Burgtheater, die Nacktrevuen – alles, was der Tourist und Einheimische wissen muss. Aber Hirschfeld hat auch damals Veränderungen zu beklagen: Die Bankenhäuser verdrängen die Kaffeehäuser. Die Wiener trinken fast kein Bier mehr! Es gibt viel zu schmunzeln für den heutigen Leser.
Apropos, wussten Sie:
… Dass Frauen ohne männliche Begleitung aus Schicklichkeitsgründen im Sacher nicht bedient wurden?
… Was ein Schnitzel mit Charlestongarnierung ist?
… der Ober im Kaffeehaus „Zahlmarkör“ genannt wurde?
… dass in den meisten großen Lokalen Salonkapellen oder Jazzbands spielten?
Erinnern Sie sich noch an das Café Lurion in der Siebensterngasse? An das Café Arlon in der Rothgasse? An das Krystallcafé auf dem Aspernplatz?
Der beliebteste Reiseführer der 1920er Jahre. Als das Grauen noch in der Zukunft lag.
„Über Wien kann man nur unpathetisch schreiben, mit einem lächelnden und einem nörgelnden Auge. Auch auf diese Weise kann man von einer Stadt begeistert und in die verliebt sein. Und vielleicht ist es nicht einmal die schlechteste Art. Wer wirklich liebt, singt keine Liebeslieder.“
Iss gut und bleib schlank – Wenn du kannst
Das ist ein sehr gewöhnliches Kapitel, bei dem nicht viel literarische Ehren zu holen sind: das Essen … davon sprechen bekanntlich gebildete und feinsinnige Leute nicht. Aber kann ein Fremder den ganzen Tag gebildet und feinsinnig sein? Kann er ununterbrochen Kirchenfenster und Barockportale bewundern, bis er die Genickstarre kriegt und ihm die Redensarten ausgehen? Und vor allem: Wie soll er diese Bildungsstrapazen aushalten, wenn er den Leib nicht entsprechend stärkt? Außerdem ist das richtige, verständnisvolle Essen und Trinken in einer fremden Stadt ein viel schwierigeres Problem als das Kunstwandern durch Kirchen und Museen. Alles, was man dort gesehen haben muss, hat im Reisehandbuch seinen Stern, seinen Doppelstern. Man weiß also, bevor man noch hingesehen hat: Aha, das ist eine Sehenswürdigkeit, darüber werden zu Hause Onkel Fritz und Tante Ida von mir Rechenschaft fordern. Aber die Sterne der Gasthauswelt, die kann man nicht aus dem Baedeker erfahren. Er ist ja auch hier gewissenhaft wie immer und zählt die erstklassigen und die guten Lokale auf, aber für eine so feuchte Angelegenheit viel zu trocken. Restaurants, Gasthäuser sind keine Sehenswürdigkeiten, sondern Essenswürdigkeiten, und die kann man nur nach eigenem Geschmack herausfinden. Gut essen und trinken ist auch eine Kunst, und eine solche Kochkunstwanderung wird Ihnen gerade in Wien viel mehr von der »Landesart und Sitte« erzählen als sämtliche Kirchenfenster und Barockportale. Mit einem Wort: Lassen wir die Bildung und die Feinsinnigkeit einmal beiseite und sprechen wir ruhig vom Essen.
Wo soll man diese Kochkunstwanderung beginnen? Natürlich, da entsteht zwischen Ihnen sofort wieder eine eheliche Differenz. Ängstlich und korrekt, wie Männer meistens sind, verweist er auf die Inschrift im Hotelzimmer: »Falls die Hauptmahlzeiten nicht im Hotelrestaurant genommen werden, erhöht sich der Zimmerpreis um 25 Prozent.« Unserer reizenden Gnädigen ist das aber ganz egal, denn erstens weiß sie gar nicht genau, wie viel 25 Prozent sind und überhaupt erklärt sie dezidiert: »Ich will nicht immer in dem langweiligen Hotel-restaurant speisen. Das ist in der ganzen Welt dasselbe. Ich möchte in ein mondänes Lokal gehen, wo man Leute sieht.«
Wie wäre es mit einem Kompromiss: Das erste Mal essen wir im Hotelrestaurant, das genügt vollkommen. Die Warnungstafel im Zimmer? Aber was. Kundmachungen sind bei uns immer strenger textiert, als sie gemeint sind. Außerdem sind die Restaurants der erstklassigen Hotels wirklich sehr hübsch und elegant. Große, festlich beleuchtete Speisesäle, und in den
meisten isst man sein Abendbrot nicht unter Tränen, sondern unter den Klängen einer Jazzband. Ja, wir haben uns in den letzten Jahren gewaltig herausgemacht und seitdem es uns sanierungswürdig schlecht geht, sind wir sehr mondän, elegant und luxuriös geworden. Die ältesten, konservativsten und feudalsten Lokale haben daran glauben müssen, haben sich auf
Souper dansant und Barstimmung umgestellt. Pessimisten erblicken darin ein Zeichen des Verfalls. Aber auch der Verfall hat bei uns immer eine gewisse animierte Stimmung und selbst wenn wir auf dem berühmten Vulkan tanzen, geschieht es bestimmt im Shimmyschritt …
Sogar beim Sacher können Sie jetzt ein Wiener Schnitzel mit Charlestongarnierung essen. Sie wissen doch, was der Sacher ist? Kein Hotel, kein Restaurant, sondern ein altösterreichischer Begriff, wie der Vater Radetzky, in dessen Lager bekanntlich einmal Österreich war. Dieses habsburgisch-aristokra-tische Österreich ist früher bei Sacher abgestiegen, hat dort im distinguierten Speisesaal soupiert oder in den Separees, die eine bevorzugte Lage hatten: an der Augustinerstraße gerade hinter der Hofoper und dem Hofopernballett. Hier hat nicht nur der selige jungwiener Jüngling Anatol seine besten ero-tischen Jahre verbracht, hier hat sich auch mancher Erzherzog höchsteigenhändig um das Wohl des Volkes bemüht … Hier geruhten Fürsten, Grafen und Exzellenzen sich herabzu-
lassen und hier fing nicht nur der Mensch, sondern auch das Ballettmädel prinzipiell mindestens etwa mit einem Baron an … Dieses Hotel war aber auch das Absteigequartier des alten Österreich-Ungarn und seiner Politik. Hier hat nicht nur der Oberkellner, sondern leider auch unsere Diplomatie schwere Rechenfehler begangen, hier wurde ebenso wahllos konferiert und regiert, wie geliebt. Aber es war alles nicht viel wert und nicht von Dauer, die Politik wie die Liebe bei Sacher. In diesem Separeelager war einmal Österreich …
Man sagt immer »der Sacher«, aber eigentlich sollte man sagen: die Sacher. Nämlich Frau Anna Sacher, die dieses Hotel und sein Restaurant seit Jahrzehnten repräsentiert und leitet. Auch eine altösterreichische Originalfigur, eine Gestalt aus der Zeit der Fürstin Pauline Metternich. Die Frau Sacher ist keine gewöhnliche Wirtin, sie ist eine patrizische Dame mit einem Häubchen und einer weißen Schürze. Und dabei doch eine richtige Wirtin, die ihr Handwerk versteht, aber auch ihre Gäste. Zwischen ihr und ihren vornehmen Stammgästen besteht eine gewisse, intime, herzliche Vertraulichkeit, aber nur von Seiten der Frau Sacher, die immer Distanz zu wahren weiß. Und sie weiß auch genau, wem sie die Hand zu reichen hat, ein Händedruck, der hier zugleich eine Legitimation ist, eine Anweisung auf besonders aufmerksame Bedienung, auf einen besonders guten Platz. Dieses Sacher-Zeremoniell gilt auch in der Republik unverändert weiter und trotz aller Jazzkonzession an die heutige Zeit versteht die Frau Sacher keinen Spaß, auch dann nicht, wenn eine einzelne Dame sich den Spaß machen will, hier allein zu essen. Einzelnen Damen und mögen sie noch so einwandfrei sein, wird hier und in einigen anderen konservativen Lokalen nicht serviert. Frau Sacher lässt sich lieber wegen Ehrenbeleidigung klagen und verurteilen, als dass sie da nachgibt. Sonst ist die Frau Sacher eine charmante, gescheite Wienerin, aber dass eine Dame sich abends allein zu Tisch setzt, das geht über ihre Souperbegriffe. Und darüber entrüstet sie sich immer wieder: teils aus einer gestrigen Moral heraus, teils deshalb, weil eine Dame in Herrengesellschaft erfahrungsgemäß viel mehr konsumiert. Und eine Dame, die anständig isst und trinkt, die ist wirklich anständig …
Übrigens ist der Sacher absolut kein Wurzlokal. Jetzt können Sie als gewöhnlicher, anständiger Mensch oder als gut angezogener Hochstapler hierherkommen und sich ein Menü um 8 Schilling geben lassen, das wirklich sehens- und essenswert ist. 3 Schilling Trinkgeld, 1 Schilling Garderobe, 5 Schilling für die Musik, macht für ein Ehepaar etwa 30 Schilling. Für das Geld sehen Sie noch gratis die Überbleibsel des gestrigen Österreich, einen Kinsky, Schönborn, Sternberg oder Salm, die scheinbar nichts davon spüren, dass der Adel in der Republik Österreich abgeschafft ist, dass sie nur mehr Fürsten und Grafen in der Klammer sind, die alle noch genauso anmaßend distinguiert aussehen wie einst, als noch eine hohe, schlanke Figur ein Verdienst um den Staat war und die unverändert fesch-leger über die Tontschi und die Trixie sprechen, über den Gaul und den Bock. Hier ist, trotz Jazztanz, die Zeit stehen geblieben, hier lebt von 10 Uhr Abend bis 2 Uhr Früh das gestorbene Österreich ewig weiter.
Aber mir scheint, für die Gnädige ist dieses historische Hotel nicht das richtige. Wir müssen sie unbedingt in eines der noblen Ringstraßenhotels führen: Imperial, Grand Hotel oder neues Bristol. Hierher kommt die zwar im kaufmännischen Sinn nicht immer gute, aber die gut gekleidete Wiener Gesellschaft nach dem Theater. Nämlich jener sehr klein gewordene Kreis, der sich in einem Speisesaal zu Tisch setzt, um eine Toiletten- und Schmuckschau zu veranstalten, und der mit kostspieligen Vorspeisen, Fischen und Geflügel seinen Appetit stillt und seinen Kredit hebt. Ob wir ins Imperial, ins Grand Hotel oder in den Grillroom des neuen Bristol gehen, ist ganz egal. Überall ist das gleiche Publikum: Fremde und das letzte Aufgebot der Wiener Luxusnachtmahlesser, überall die gleiche Küche: internationale Hotelkost mit wienerischem Einschlag.
Sagen Sie Kaffeeh!
Ein neu aufgelegter Reiseführer führt ins Wien von 1927. So bleibt eine lebendig-beschauliche Metropole im Gedächtnis, die nach 1938 verlorenging. Wien wurde zur „Stadt ohne Juden“ – ein trauriges Zusatzkapitel zu diesem nostalgisch-heiteren Buch.
Wenn jemand eine Reise tat, so rüstete er sich seit 1835 mit dem „Baedeker“ oder ab 1853 mit einem „Griebens Reiseführer“ aus. 1927 aber war das Geburtsjahr einer neuen Reihe, die den Pionieren den Rang ablief. Sie versprach, „Was nicht im Baedeker steht“. Am bekanntesten von den 17 Bänden ist heute „Das Buch von der Riviera“ von Klaus und Erika Mann.
Zum Erfolg trug die Gestaltung durch den Prager Grafik-Profi Walter Trier bei, der auch die berühmten Einbände von Erich Kästner schuf. Die Erfindung des Piper Verlags wurde so erfolgreich, dass sie bis heute unter neuem Gewand fortlebt. Denn Pipers „Gebrauchsanweisung“ für verschiedene Länder beruht auf einem ähnlichen feuilletonistischen Konzept. Ludwig Hirschfeld war der ideale Plauderer für den jetzt aufs neue erschienenen Wien-Band. Etwas machte ihm aber zu schaffen:
„Dem Verleger fiel folgendes ein: Viele Fremde, die nach Wien kommen, fahren auch nach Budapest. Zu dem Wiener Buch muß daher auch ein Anhang geschrieben werden: Ausflug nach Budapest. Nur das Wichtigste, zirka 16 Seiten, das genügt völlig. Gutmütig erklärte ich mich bereit, aber es tut mir jetzt noch leid.“
In der nun wiederaufgelegten zweiten Auflage, die 1929 auch ins Englische übersetzt wurde, konzentrierte sich Hirschfeld, mit eigenen Worten verhinderter Banker sowie „Humorist, Sonntagschroniqueur der Neuen Freien Presse und Lustspielautor“ wieder auf Wien allein. Dieses umfasste für ihn vor allem die Innere Stadt und angrenzende Bezirke innerhalb des Gürtels.
Kein Wunder, denn die Adressaten waren ja nicht zuletzt zahlungskräftige deutsche Gäste. Immer wieder klingt in diesem Buch durch, dass Wien eine infolge des Ersten Weltkriegs deklassierte Hauptstadt ist. Manches können sich nur die Ausländer leisten, und wer auf Erfolg aus ist, hat sein Glück längst in der Fremde gefunden:
„Auch Josma Selim und Ralph Benatzky sind nach Berlin ausgewandert, wie so viele andere, weil man in diesen schlechten Zeiten von der Wiener Note nur dann gut leben kann, wenn man sie im Ausland in Mark oder tschechische Kronen umwechselt.“
Mit dem Kapitel „Kaffeehauskultur“ erwartet deutsche Touristen gleich die erste, bis heute gültige strenge Lektion:
„Um Gottes Willen, sagen Sie nicht ,Káffeeʻ wie die Reichsdeutschen, sondern sagen Sie ,Kaffeehʻ, das klingt gleich viel aromatischer.“
Nach ganzen zwei Seiten über die Kaffeespezialitäten wird ein Loblied in Moll aufs Kaffeehaus gesungen. Denn Hirschfeld macht immer wieder deutlich, dass die alte Zeit vorbei ist, und die Klischees überholt sind:
„Oder haben Sie vielleicht erwartet, dass jeder der Wiener Autoren hier mit einem süßen Mädel im Arm sitzt?“
Im Café Herrenhof sitzen zwar die Autoren Leo Perutz und Anton Kuh. Wer nun aber aus erster Hand eine Galerie weiterer literarischer Berühmtheiten erwartet, wird sie vergeblich suchen. Suchen, denn leider hat die Neuausgabe ein Register der Örtlichkeiten, aber keins der Personen. Es wäre ein Whoʼs Who der damaligen Zeit, darunter Peter Altenberg, Sigmund Freud und Max Reinhardt, Arthur Schnitzler oder die Tenöre Richard Tauber und Leo Slezak. Auch sie sind, wie alle, Cafégänger:
„So leben wir alle Tage. Nämlich im Kaffeehaus. Von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachts spielt sich hier ein wesentlicher Teil des Wiener Lebens ab. Hier werden die Meinungen gebildet, die Gemeinplätze und manchmal auch die Gemeinheiten.“
Ähnlich ausführlich kommen Musik und Kleinkunst, Restaurants, Tanzbars mit Eintänzern, der Prater, die Heurigen und die Vorläufer der Shopping-Center zur Geltung. Verblüffend ist dabei, wie viele dieser Orte sich bis heute erhalten haben: von der Tanzschule Elmayer bis zum Warenhaus Gerngroß, vom Griechenbeisl bis zum Heurigen Kierlinger. Und selbst ins Stadion scheint sich Ludwig Hirschfeld verirrt zu haben:
„Und nirgends ist die heutige Wiener Bevölkerung so leidenschaftlich wie begeistert wie bei einem Fußballmatch. Auf dem Platz des Wiener Athletik-Sportklubs im Prater, auf der Hohen Warte, in Hütteldorf. Dort fallen die großen Entscheidungen zwischen den führenden Vereinen, der Hakoah, der Vienna, dem Rapid und wie sie alle heißen.“
Wie selbstverständlich nennt Hirschfeld allen voran die Hakoah, den ersten österreichischen Profi-Meister von 1925. Den jüdischen Verein, der als erste Mannschaft des Kontinents bei einem englischen Klub – West Ham United – gewinnen konnte. Damit kommt beklemmend eine weitere Dimension hinzu: Das, was noch nicht in diesem alternativen „Baedeker“ stehen konnte.
Ludwig Hirschfeld ruft uns ein Wien ins Gedächtnis, das wenig später unterging, indem nach 1938 sein jüdisches Leben ausgelöscht wurde. Das konnte er zwar nicht ahnen. Aber wir lesen im Wissen um die kommende Katastrophe mit Gänsehaut eine Passage, die wie ein Fremdkörper den üblichen Plauderton stört:
„Ich möchte Sie nur auf die spezifisch wienerische Judenfrage aufmerksam machen. Sie hat gar nichts mit Politik oder Rassenantisemitismus zu tun, denn diese Frage wird hier von allen, ohne Unterschied der Konfession gestellt, von Hakenkreuzlern wie von Juden: ,Ist er ein Jud?ʻ. Alle anderen Fragen kommen später. In jedem Gespräch wird man Ihnen damit aufwarten.“
Auch Fritz Grünbaum war Jude. Für Hirschfeld war einzig wichtig, dass er als Direktor des berühmten Kabaretts „Simplizissimus“ auf der Bühne stand:
„Er macht ein Gesicht, als könnte er nicht bis zwei zählen und ist in der Diskussion doch von einer ätzenden Schärfe des Witzes, von einer Schlagkraft des Einfalles, einer gutmütigen Bosheit, einer verbindlichen Perfidie, die die Leute zum Lachen bringt.“
Was Hirschfeld hier über einen seiner Lieblinge schreibt, wurde zu einem Gedenkblatt. Fritz Grünbaums letzter Auftritt soll Silvester 1940 in Dachau gewesen sein, 14 Tage später war er tot. Überliefert ist sein Satz an einen KZ-Aufseher:
„Wer für Seife kein Geld hat, soll sich kein KZ halten.“
Auch einer der größten Geiger seiner Zeit wird den Wien-Touristen vom Konzertbesucher Hirschfeld angepriesen:
„Sie werden heute jene berühmte Stelle aus der dritten Leonoren-Ouvertüre hören, die den Philharmonikern niemand nachspielt. Saß doch am Pult der ersten Violine seit Jahren kein Geringerer als Arnold Rosé, der Führer des Rosé-Quartetts.“
Rosés Tochter Alma trat wenige Jahre später in Auschwitz auf, bis zu ihrem Tod im April 1944 als Dirigentin des Mädchenorchesters. Ihr Schicksal war keine Ausnahme. Ludwig Hirschfeld wohnte in der Bechardgasse im dritten Wiener Bezirk. Und damit in einem der Zentren des bürgerlichen jüdischen Wiens. Zahlreiche Stolpersteine und Gedenktafeln mahnen heute daran, wie sein Viertel zwischen 1938 und 1945 in eine Stadt der Geister und Toten verwandelt wurde. 200 Meter von den Hirschfelds entfernt, in der Gärtnergasse, war das Haus des Dichters und Dramatikers Jura Soyfer, zu dessen letzten Gedichten das „Dachau-Lied“ wurde.
„Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt. Und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad!“
Gleich ums Eck der Hirschfelds, an den berühmten Sophiensälen vorbei, in der Marxergasse 25, wohnte ein weiterer Promi der Unterhaltungsbranche:
„In der BAR ZUM KROKODIL in der Habsburgergasse kreiert Hermann Leopoldi, der wirksamste und populärste Klaviersänger Wiens, seine neuen Kompositionen.“
Weil im März 1938 die Tschechoslowakei die Grenze für Flüchtlinge aus Österreich dichtmachte, landete Leopoldi im KZ. Nach der Freilassung aus Dachau küsste er bei der Ankunft in New York amerikanischen Boden. Robert Musil lebte bis 1938 nebenan in der Rasumofskygasse, und auch die modernistische Villa von Ludwig Wittgenstein und Peter Engelmann war nicht weit.
Die jüdischen Kaffeesieder in der Löwengasse verschwanden wie ihre Cafés. Es ist gut, dass dieser besondere Wien-Reiseführer an die Zeit erinnert, als Juden selbstverständlich ihre Heimatstadt mitprägten. Dazu trug auch Ludwig Hirschfeld bei. Seine Frau, zwei seiner Kinder und er wurden am 6. Dezember 1942 aus Frankreich nach Auschwitz deportiert. An ihn, den keine Gedenktafel ehrt, erinnert nun dieses unbeschwert-heitere Buch – auch dank des Nachworts des Wiener Autors Martin Amanshauser – sowie ein Auswahlband seiner Feuilletons.
Deutschlandfunk, Christoph Haacker, Jänner 2021