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160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband
€ 22.00
ISBN 978-3-903184-87-9
Herrn Dames Aufzeichnungen
Eine frühe Satire über Aberglauben, Magie und freie Liebe. Franziska zu Reventlow lässt einen jungen Mann nach München kommen und in den Kreis der Kosmiker eintreten. Eine bunte Mischung aus vergangenen Kulturen und Welttheorien bestimmt deren Denken und ausschweifende Feste. Dame verliebt sich, Dame ist fasziniert, aber am Ende der Faschingszeit ist der Spuk vorüber.
Ein junger Mann aus Berlin namens Dame fährt nach München und trifft dort auf die Schwabinger Künstler-Bohème. Dame fühlt sich literarisch berufen und möchte das Wichtigste über den Stadtteil „Wahnmoching“ aufzeichnen. Er wird zum Chronisten der Treffen einer überspannten Intellektuellengruppe, der „Kosmiker“. Diese sind auf der Suche nach dem Sinnesrausch, der Orgie, dem „Heidnischen“, modernem Hetärentum, nach „dionysischen Festen mit rasenden Tänzen“ – und darin liegt auch die Hoffnung in den Stadtteil Wahnmoching. Ihre geistigen Anführer sind Hofmann, Delius und Halling – hinter diesen Namen verstecken sich die historischen Persönlichkeiten des Karl Wolfskehl, des Mysterienforschers Alfred Schuler und des Philosophen Ludwig Klages. Auch den Dichter Stefan George und Franz Hessel verstehen die Theorien und Sehnsüchte zu faszinieren.
Man trifft sich, man diskutiert, man fabuliert, man feiert, man liebt, es herrscht Faschingszeit und die Ekstase kennt noch keine Grenzen. Am Ende der Faschingszeit – am Aschermittwoch – jedoch herrscht Katerstimmung, der kollektive Rausch ist beendet, fast alle Mitglieder der Gruppe sind erschöpft und zerstritten.
Der Roman erschien erstmals 1913.
„Das Fest begann mit einem feierlichen Umzug, voran schritt eine Bacchantin, die ein ehernes Becken schlug, dann kam Dionysos mit seinem goldenen Stab, ihm folgten der Caesar und eine in Schwarz gehüllte Matrone. Wer in antikem Gewand war, folgte, die Übrigen blieben auf der Seite stehen. Denn viele waren auch anders kostümiert – Renaissance, alte Germanen oder orientalisch. Der arme Georg, Marias Rechtspraktikant, der durch die Eckhäusler eingeladen worden war, hatte den Charakter des Festes entschieden nicht begriffen, er war als Pierrot gekommen und es war ihm dann sehr unbehaglich.“
Dann war schließlich der Tag herangekommen – ich saß noch bis zur Dämmerung zu Hause am Fenster und blies auf meiner Flöte. Dabei kam eine ganz verträumte Stimmung über mich, ich meinte wirklich ein Hirt zu sein, der eine antike Landschaft mit seinem Spiel erfüllte, vielleicht auch ein geliebtes Mädchen dadurch herbeizulocken suchte. Aber es kam kein Mädchen, es kam nur Chamotte, um zum Aufbruch zu mahnen – und ich war wieder Herr Dame, der ein griechisches Kostüm trug, und den man verurteilte, heute Abend die Syrinx zu blasen.
Und ich blieb auch bei dem Fest Herr Dame.
Als Anblick und Stimmung war es schon etwas Wunderbares, ja, ich kann wohl sagen: Als wir zu früher Morgenstunde das gastliche Haus verließen, waren auch meine Empfindungen bis zu einem Zustand inneren Taumels gesteigert, der noch heute nicht ganz erloschen ist. Und doch – und doch – ich wollte, ich wäre in der Lage, zu behaupten, man müsse seine Feder in heidnisches Blut tauchen, um Wahnmochinger Bacchanale zu schildern, und wenn ich mein Buch schreibe, werde ich es wohl auch so ausdrücken.
Ich denke nach, dort drüben am Sofa liegt noch mein Kostüm und die Hirtenflöte, und nun will mir wiederum scheinen, als übertriebe ich nach der anderen Seite. Es lag doch viel heidnischer Glanz und Schimmer über dieser Nacht, bei einigen war es vielleicht nur allgemeine frohe Feststimmung, Maria, Susanna sind sicher bei jeder Redoute ebenso bacchantisch aufgelegt – bei anderen wohl auch eine tiefe Entrücktheit aus der heutigen Welt. So Delius, der als römische Matrone in schwarzen Gewändern erschienen war; auf dem Kopf trug er einen schwarzen Schleier, und in der Hand einen metallenen Triangel, dem er mit einem Stäbchen melodische Töne entlockte. Und auch bei dem Professor, der den indischen Dionysos darstellte, in purpurrotem Gewand mit Weinlaubkranz und einem langen goldenen Stab. Beim Tanzen raste er wild daher, und seine Augen rollten, mir fiel auf, dass er eigentlich ein schöner Mann ist mit seiner mächtigen Gestalt und dem dunkeln Bart. Er schien auch vielen Frauen gut zu gefallen, und er sah sie alle mit verzückten Blicken an, und fand sie alle namenlos schön. An Rauschfähigkeit fehlte es ihm sicher nicht, und er lebte ganz in seiner Rolle, wenn man es so nennen darf. Nur bei einer kleinen Szene – Maria verfiel in einem animierten Moment darauf, an seinem ungeheuren goldenen Stab emporzuklettern – er schaute sie froh entgeistert an, hielt ihr den Stab hin, und der Stab brach in der Mitte durch. Schade, aber in diesem Moment versagte sein heidnisches Empfinden, und er wurde ärgerlich. Nach meinem Gefühl dürfte Dionysos sich nicht ärgern, wenn Bacchantinnen oder Hermaphroditen etwas entzweibrechen. Aber außer mir hat es wohl niemand bemerkt.
Den Meister sah ich zum ersten Mal aus der Nähe, als Cäsar in weißer Toga und mit einem goldenen Kranz um die Stirn, er mischte sich ungezwungen unter die Menge, und es gab ihn wirklich. Dabei behält er doch immer eine gewisse Ferne, und seine Geste schien mir schön und würdig.
Das Fest begann mit einem feierlichen Umzug: Voran schritt eine Bacchantin, die ein ehernes Becken schlug, dann kam Dionysos mit seinem goldenen Stab, ihm folgten der Cäsar – er trug eine Art kugelförmigen, durchbrochenen Krug, in dem ein Licht brannte – und die in Schwarz gehüllte Matrone, daneben und dazwischen bekränzte Knaben mit Weinbechern. Wer in antikem Gewand war, folgte, die übrigen blieben zur Seite stehen. Denn viele waren auch anders kostümiert – Renaissance, alte Germanen oder Orientalisch.
Der arme Georg, Marias Rechtspraktikant, der durch die Eckhäusler eingeladen war, hatte den Charakter des Festes entschieden nicht begriffen, er war als Pierrot gekommen und es war ihm dann sehr unbehaglich. Willy, dem er sein Leid klagte, sagte, er müsse eben versuchen, sich wie der Narr in einem Shakespear’schen Drama aufzufassen. Er empfand wohl die Bosheit nicht, die darin lag, und fühlte sich getröstet.
Der Umzug ergab tatsächlich ein ungemein wirkungsvolles Bild, und durch den eigenartigen Gesang, der dabei angestimmt wurde, eine fast beklommen weihevolle Stimmung. Selbst Georg in seinem Pierrotanzug war ganz davon angetan und stand wie erstarrt in einer Fensternische. Es waren nur ein paar Verse, die liturgisch, das heißt in dumpf-nasalem
Ton, gesungen wurden, wobei man alle Silben gleichmäßig betonte und ins Unendliche ausdehnte.
Die "Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil" sind für die Erforscher von Zeit-, Geistes- und Sozialgeschichte der Münchner Boheme um 1910 eine wichtige Quelle, berichtet die "Skandalgräfin" Franziska (oder Fanny) zu Reventlow (über die wir an dieser Stelle schon so oft berichteten, dass ich mir weitere Vorstellungen und Einordnungen hoffentlich sparen kann) doch dort quasi aus erster Hand über das Leben in Schwabing, dem sie in diesem Roman den sprechenden Namen "Wahnmoching" gibt. Auch die Protagonisten werden nur notdürftig verkleidet, nach dem gewohnt kenntnisreichen und von sprachlichem Esprit einmal mehr nur so sprühenden Vorwort der grandiosen und durch zahlreiche lesenswerte Biografien von Nietzsche bis Lasker-Schüler und eben auch zu Reventlow bekannt gewordenen Kerstin Decker werden einige in einer kurzen Liste "demaskiert". U.a. hat FzR da folgende "Personen ihres Freundes- und Bekanntenkreises porträtiert": Delius (= der "Mysterienforscher" Alfred Schuler), Der Meister (= Stefan George), Hallwig (= der "Graphologe und Philosoph" Ludwig Klage). Letzterer war auch im "echten Leben" eine Zeitlang einer der Liebhaber der Autorin, die hier als "Susanna" auftritt. Die leicht verwirrten und zwischen schweren Gedanken zum "Heidnischen" und profaner Lust am Feiern Schwankenden pflegen mit Inbrunst ihre Exzentrik und Egos – das war im Schwabing des frühen 20. Jahrhunderts offenbar nicht sehr viel anders als heute in Neukölln oder Leipzig-Plagwitz. Nur dass seinerzeit von "Blutleite" und "Bacchanal" die Rede war (so wie heute von einer FetischParty im KitKat-CLub), die Damen und Herren einander artig siezten und die Gespräche (zumindest scheinbar) tiefgründiger geführt wurden. Wenn also Herr Dame (ein junger Mann aus gutem Berliner Hause) seine Erlebnisse nach der Ankunft in München niederschreibt, erfährt in seinem "document humain" der (Aber)Glaube an magische Rituale, den die (echten) "Kosmiker" seinerzeit kultivierten, ebenso eine wundervoll satirische Aufbereitung wie die hedonistische Hingabe an den "Fasching". Dabei äußern die Helden recht "heutige" Ansichten: "… die Beschränkung der Erotik auf das eine oder andere Geschlecht ist ja überhaupt eine unerhörte Einseitigkeit. Der vollkommene Mensch muss alle Möglichkeiten in sich tragen und jeder Blüte des Lebens ihr Aroma abzugewinnen wissen.", meint z.B. "Adrian" (= Oscar A.H. Schmitz). "Susanna" zu Reventlow bemerkt später lakonisch "Wir wollen nur etwas Verwirrung anrichten" und bringt die heimliche Strategie der Wahnmochinger damit auf den Punkt. Die Sorgen sind groß, beziehen sich aber nur selten auf Kleinlich-Weltliches: "Wir haben einen Nachtspaziergang zu den Hünengräbern verabredet. Es ist sehr möglich, dass wir dort zur Nachtzeit kosmische Urschauer erleben. (…) Wenn nur um Gottes Willen der Mond nicht dazwischenkommt." Auch seiner Einzigartigkeit ist sich der mystische Kreis samt kappadozischer Dame bewusst: "Dem Laien mag es fast wie eine Redensart klingen, mit der schon unzählige Bewegungen ihr Programm eröffnet haben, aber für den Wissenden besteht kein Zweifel, dass ebendiese Bewegung von Grund auf anders geartet ist." - das denken die Helden von heute noch heute. "Herrn Dames Aufzeichnungen" sind ein kulturgeschichtlicher (Rück)Blick aus erster Hand, der noch dazu sehr lustig zu lesen ist.
Westzeit, Juni 2022