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Überarbeitete und erweiterte Neuauflage mit einem Nachwort von Otto Tausig und einem Vorwort von Helmut Opletal
Mit zahlreichen Abbildungen
198 Seiten, Hardcover, Leseband
€ 24.00
ISBN 978-3-903184-99-2
SHANGHAI PASSAGE
„Zwei Passagen auf dem Dampfer USARAMO nach Shanghai frei.“ Das Schicksal einer jüdischen Familie im Wien der späten 1930er Jahre, die unprätentiöse Lebensgeschichte einer Vertriebenen, die dank ihrer köstlichen Apfelstrudel in Shanghai überlebt.
Eindringlich und in aller Präzision schildert Franziska Tausig die verzweifelten Versuche, 1938 aus Österreich ausreisen zu können – irgendwohin, Hauptsache weg. Ihren Sohn Otto Tausig – damals 16-jährig, später sehr bekannter Wiener Schauspieler – kann sie 1938 durch einen Kindertransport nach England retten, er lebt dort bis 1945 in der Emigration. Für sich selbst und für ihren Mann bekommt sie durch Zufall zwei Schiffspassagen nach Shanghai.
„Man sagte uns, dass wir Glück hätten. Die Besitzer dieser Passagen hatten am Vortag Selbstmord verübt, der Dampfer war von der Gestapo gechartert worden und sollte nach Shanghai fahren.“
Der Zufl uchtsort Shanghai, der Krieg, Blicke in das Leben der EmigrantInnen im Ghetto unter japanischer Kontrolle – aufgezeichnet von einer Frau, die zunächst nur durch ihre Fähigkeit, Apfelstrudel und Sachertorte zu backen, überlebt und deren Mann im Exil an TBC stirbt. Erst neun Jahre später kann sie nach Wien zurückkehren. Am Westbahnhof sehen ihr Sohn Otto und sie einander wieder.
Die Jahre in Shanghai waren bittere Jahre. Sie waren wie ein Kelch, randvoll mit einem grausamen Schicksal angefüllt, den ich bis zum letzten Tropfen leeren musste.
Nicht deshalb, weil ich überaus hart arbeiten musste. Mein Mann war vom ersten Tag an krank. Wenn es so etwas wie ein bisschen Glück in dieser Zeit gegeben hat, dann war es die Arbeit, die es mir möglich machte, ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu ernähren. Wie sehr er darunter gelitten hat, lässt sich mit Worten nicht schildern.
Nach unserer Ankunft sind wir mit einem der beiden Besitzer in das Restaurant gegangen, wo ich zunächst einmal auf die Tauglichkeit für meine neue Aufgabe geprüft wurde. Nachdem ich meinen Mantel abgelegt hatte, bekam ich eine weiße Schürze umgebunden.
In einer großen Küche starrten mich dann vierzehn »Schlitzaugen« neugierig an. In »Pidgin-Englisch« erklärte ihnen der Chef, dass ich die neue »Missi« sei, die von nun an mit ihnen arbeiten würde.
Dann kamen die beiden Chefinnen und stellten mir die Schicksalsfrage: »Können Sie wirklich einen echten Wiener Apfelstrudel, Sachertorten und einen Gugelhupf machen? Wir glauben zwar nicht, dass Sie jemals Berufsköchin waren, schon gar nicht in einem Restaurant von unserem Format, aber es ist uns egal und wir verlangen auch keine Zeugnisse. Was wir von Ihnen verlangen ist, dass Sie gleich ein paar Apfelstrudel und Torten machen. Sie müssen nur den Teig zubereiten, alles andere machen die Boys.«
Von diesen wurden schon Körbe mit Äpfeln herbeigeschleppt. Ich schälte einen Apfel und schnitt ihn in dünne Blättchen. Die Probe wanderte von Hand zu Hand, und in Minutenschnelle waren Schüsseln mit so hauchdünn geschnittenen Äpfeln gefüllt, wie ich es niemals zusammengebracht hätte.
Indessen waren auch Schüsseln mit Mehl aufgestellt und ein weißes Tuch auf einen großen Tisch gebreitet worden, und nun starrten mich alle erwartungsvoll an. Ich verlangte Eier und Wasser. Mir wurde heiß und kalt und der Schweiß rann in kleinen Bächen über mein Gesicht. Ich betete ein stilles Stoßgebet. Dann ging ich zu dem kleineren Tisch. Ich machte eine Grube in einen Mehlberg, schlug Eier hinein und gab etwas Essigwasser und zerlassenes Fett dazu. Wie ein Zauberer knetete und schlug ich den Teig mit all meiner Kraft so, dass er bald wie ein Gummiball auf der Tischplatte auf und ab hüpfte und sich geschmeidig wie Seide anfühlte. Mir kam es vor, als hätte der liebe Gott persönlich seine Hände im Spiel. Schon sicherer geworden, schritt ich erhobenen Hauptes zum großen Tisch. Ich weitete den Teigballen auf meinen Fäusten aus, und als ich ihn auf das bemehlte Tuch breitete, belegte er bereits ein Drittel des Tuches.
Und dann zog ich ihn aus. In meinem Kopf löste ein Gebet das andere ab. Eine Weile zog ich den Teig, der nun schon ganz fein war, über meine Fäuste, dann glitt er hauchdünn über den Tischrand, und es war kein einziges Loch darinnen.
Ich muss gestehen, ich habe nie vorher und auch nie nachher so einen vollkommenen Strudel zustande gebracht. Später hat ihn dann Fritz, der chinesische Koch, besser als ich gemacht. Nun aber kam die eine Chefin mit einem Zeitungsblatt. Sie legte es unter den Teig, und man konnte die Schrift genau lesen.
Ich wollte aus meiner Manteltasche ein Taschentuch holen, um mir den Schweiß abzutrocknen, aber das wurde mir nicht erlaubt. Man brachte mir das Taschentuch, weil sie fürchteten, dass ich fortgehen könnte. Der Strudel wurde noch heiß an eine japanische Offiziersgesellschaft, die inzwischen eingetroffen war, verkauft.
Indessen unterhielt sich im Gästezimmer einer der beiden Chefs mit meinem Mann. Er servierte ihm erst eine Jause und später ein Nachtmahl und versprach ihm, dass ich bald kommen würde: »Es dauert nicht mehr lang, Herr Doktor. Die zwölf Sachertorten sind schon im Rohr. Den Überguss wird Ihre Frau erst morgen machen.« Aber erst gegen Mitternacht nahmen wir, zusammen mit den beiden Familien und der Tochter des einen Ehepaares, ein gemeinsames, zweites Nachtmahl ein.
Die Lebenserinnerinnerungen von Franziska Tausig starten in ihrer Kindheit und enden bei ihrer Rückkehr nach Wien. 1895 geboren als Tochter eines jüdischen Holzhändlers, heiratet sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg einen jüdischen Juristen aus Temesvar, der später versehrt aus dem Krieg zurückkehrt. 1922 kommt ihr Sohn Otto zur Welt, den sie 1938 mit einem Kindertransport nach Großbritannien schicken kann. Mit finanzieller Unterstützung ihrer Eltern schafft es das Ehepaar, wenig später mit einem deutschen Schiff von Hamburg nach Shanghai in die Ungewissheit zu fliehen. Verarmt, der chinesischen Sprache nicht mächtig, bewirbt sich die Autorin als Köchin und hat mit Wiener Mehlspeisen nach kürzester Zeit großen Erfolg. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt sie nach Wien zurück und trifft ihren Sohn. Franziska Tausigs Beschreibungen setzten sich aus einem Bündel von Anekdoten zusammen. Liebevoll und fürsorglich kümmert sie sich um ihren wenig belastbaren kranken Mann und ist dabei bereit, fast jede erdenkliche prekäre Arbeit im Exil zu verrichten, um die Familie wirtschaftlich durchzubringen.
Trotz der schwierigen Lebensumstände im Alltag, die sie detailliert beschreibt, verzagt sie nie. Aufmunternd und humorvoll erfährt die Leserin vieles über kulturelle Besonderheiten in Shanghai. Eine herzerfrischende Autobiografie, die vermittelt, dass Selbstermächtigung in dieser Zeit ein wesentlicher Bestandteil ist, um überlebensfähig zu sein.
Weiberdiwan, Dezember 2022