Was macht die junge Friedel Bornemann, wenn sie keine Arbeit findet, weil es kaum Berufe für Frauen gibt? Es sind die 1920er Jahre, und die aufgeweckte Friedel entschließt sich, sich als junger Mann auszugeben, denn es werden Pagen gesucht im mondänen Dalmasse-Hotel. Glanz und Elend der Zwischenkriegszeit verdichtet Maria Peteani zu einer tragikomischen Screwball-Komödie, die zumindest für Friedel nicht in der Katastrophe endet.
Die junge Friedel Bornemann sucht – wie so viele andere – dringend eine Stellung in Berlin. Sie hat kaum mehr Geld, kann sich kein eigenes Zimmer leisten und wird von Existenzangst geplagt. Als ihr eine Freundin erzählt, dass im renommierten Hotel Dalmasse ein Liftjunge gesucht wird … kommt ihr eine Idee. Sie könnte sich als Mann ausgeben! Also fl ugs die Haare abgeschnitten, hinein in die Uniform des Vorgängers und schon kann es in der neuen Stellung als Page losgehen; merken darf das natürlich niemand, Friedel – nunmehr Friedrich Kannebach – hat große Angst, dass ihr Schwindel auffliegt.
Aber sie schlägt sich gut im Nobelhotelkosmos, wächst immer mehr in die neue Rolle hinein, bis es mit der Ankunft von Miss Mabel Wellington aus Philadelphia turbulent wird im Hotel. Friedel alias Friedrich erweist sich als fi ndiger Detektiv und klärt einen von langer Hand geplanten Betrug auf, läuft dabei aber Gefahr, selbst als Schwindlerin aufzufliegen.
Sekretär Spöhne, der im kleinen, glasverschalten Büro hinter der Portiersloge sitzt und Lohnzettel schreibt, hebt den Kopf. Ein junges Mädchen steht vor ihm.
»Sie wünschen?«
»Bitte, ist es richtig, dass hier die Stelle eines Liftjungen per sofort zu vergeben ist?«
»Jawohl!«
»Darf ich um die Bedingungen fragen?«
»Freie Verpflegung, zwölf Mark monatlich, drei Mark Quartiergeld, Kleidung und Trinkgeld.«
»Nämlich … mein Bruder … er spricht Englisch und Französisch … kann er sich vorstellen?«
»Ja, schicken Sie ihn her. Aber erst morgen! Heute ist der Direktor nicht da.«
»Um welche Zeit kann er kommen?«
»Ab halb neun.«
»Danke.«
Friedel läuft zur Tür hinaus und durch einen Nebenausgang ins Freie. Sie nimmt den Eindruck von viel satter Wärme mit sich. Vor dem Portal des Dalmasse-Hotels stehen mehrere Autos, ein sehr kleiner Page von etwa zwölf Jahren bedient die Drehtür, elegante Menschen gehen ein und aus, der ganze würfelförmige Palast erstrahlt im Licht riesiger Scheinwerfer.
Friedel steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrt auf das weiße Gebäude. »Ja!«, sagt sie laut und leidenschaftlich. »Ja! Ja!«
Ein vorübergehender Herr schaut ihr ins Gesicht. Ganz nahe. Flüstert irgendetwas, was sie nicht versteht. Er ist wohlgenährt und bepelzt. Riecht nach Zigaretten. Friedel reißt sich zusammen und läuft mit langen Schritten davon, wie ein Hase, der unverhofft den Jäger gesehen hat.
Der blaue Kammgarnanzug des überfahrenen Kellners passt nicht eben tadellos, immerhin: Er passt. Friedel probiert bei versperrter Tür. Zum ersten Mal in ihrem Leben tut sie etwas, was man nicht tut. Etwas Abseitiges, Närrisches, vielleicht sogar Gefährliches. Noch vor wenigen Wochen hätte sie das für unmöglich gehalten, jetzt, heute, denkt sie darüber gar nicht mehr nach. Die letzten Tage des Misserfolges haben sie kopfscheu gemacht. Es ist zehn Uhr abends, Käthe Petersen muss jeden Augenblick vom Kino nach Hause kommen. Diese Käthe Petersen wird einfach überrannt. Sie bedeutet das erste Entweder-Oder ihres Unternehmens. Friedel fühlt sich mit einer Energie geladen, die gewillt ist, Sturmangriffe zu inszenieren. Dennoch gilt es, Käthes bescheidene Intelligenz vorsichtig zu lenken, ihr nicht gleich die Pistole vor die Brust zu setzen. Sie wäre sonst imstande, Protest zu erheben, vielleicht gar die Alte herbeizuzetern. Man muss also systematisch vorgehen, muss sie beeinflussen wie ein Staatsanwalt die Geschworenen.
Friedel sperrt die Tür wieder auf und schlüpft, so wie sie ist, im blauen Männeranzug ins Bett. Die Decke zieht sie ganz hoch herauf. So – nun kann sie kommen!
Der Plafond des Zimmers ist mit bräunlichem Schmutz gleichmäßig überzogen. Über die Wände schlängeln sich grüne, stilisierte Tulpen. Zwei, vier, sechs, acht Tulpen nebeneinander. Macht bei zehn Reihen achtzig Tulpen.
Dass Käthe noch immer nicht da ist! Vielleicht mache ich jetzt die ärgste Stunde durch … hat sich einmal der Stein ins Rollen begeben, dann rollt man mit … Schließlich – schlechter, als es mir jetzt geht, kann’s kaum werden … Weiß Gott, ob der kleine Kellner wirklich so dämlich über den Potsdamer Platz gegondelt ist? Vielleicht lag es in seiner Absicht, unter den großen Omnibus vom Zoo zu kommen … Wer kann wissen, was ihn bedrückte? Wer schaut in des andern Herz? … Sechshundert Tulpen … scheußlich, nicht zum Ansehen. Warum malen die Menschen solches Zeug auf ihre Wände?
Aha … ich höre die Entreetür gehen … vielleicht … Käthe tritt ins Zimmer. Sie ist angeregt, ihr Hut sitzt tschihit-tschiho, das runde Gesicht glänzt von den Spuren der im Kino vergossenen Tränen. Man gab ein Drama. Es war wunderbar.
»Hören Sie, Käthe«, sagt Friedel, und ihre Stimme klingt noch dunkler als sonst, »ich habe mit Ihnen zu sprechen.«
Der blonde Kopf fährt herum. »Ei potz! Warum so feierlich, Bornemännchen?«
»Es kann so nicht weitergehen mit mir, Käthe! Ich darf meine letzten Notgroschen nicht aufzehren, verstehen Sie! Der Winter steht vor der Tür … vermutlich wird es immer schwieriger werden, unterzukommen. Ich hätte nun heute eine Gelegenheit herausgefunden, die mich vielleicht auf die Beine bringen könnte – aber ich bedarf Ihrer Hilfe.«
»Na selbstverständlich, die können Sie haben! Schießen Sie los: Was ist es denn?«
»Das werden Sie gleich erfahren. Aber bevor ich es Ihnen sage, bitte ich Sie nochmals zu bedenken, dass ich nichts verlieren kann und dass ich auf einem Punkte angelangt bin, wo etwas geschehen muss!«
»Nanu, was für lange Vorreden! Regen Sie sich doch nicht auf, Bornemännchen! Wird schon alles recht werden. Sagen Sie mir bloß, was ich dabei soll!«
»Sie? Sie sollen mir die Kleider und die Dokumente Ihres Neffen Friedrich borgen, die ich hier im Schrank gefunden habe!«
»Die … die … herrje, was wollen Sie denn damit?«
»Schauen Sie, Käthe: Als Mädchen komme ich augenblicklich nicht unter. Ich kann nur fremde Sprachen sprechen, reiten, Tennis spielen und tanzen. Sonst kann ich nichts. Wäre ich ein Junge, dann gäbe es allerhand für mich anzufangen. Sie selbst haben mir heute von der frei gewordenen Stelle eines Pagen im Dalmasse-Hotel erzählt. Ich war dort. Es stimmt. Ich möchte mich morgen vorstellen gehen. Aber dazu, wie gesagt, brauche ich sowohl auch die Kleider wie die Papiere Ihres Neffen!«
Käthe schweigt. Sie sitzt auf dem Sessel vor ihrem Bett, ihr Mund steht ein wenig offen, in ihren Augen malt sich absolute Verständnislosigkeit.
»Dass ich als Junge nicht schlecht aussehe, habe ich schon probiert«, fährt Friedel langsam fort. »Wenn Sie sich überzeugen wollen – bitte!« Sie schlägt die Decke zurück und springt aus dem Bett.
Käthe quietscht auf – hält sich aber sofort den Mund zu. »Um Gott, was hab ich mir erschrocken! Unglaublich! Einfach unglaublich! Hören Sie, wie fällt Ihnen das nur ein?«
»Meine liebe Käthe, gerade Sie sollte das nicht wundern. Sie lesen doch Romane! Glauben Sie, dass im Leben wirklich alles nur ganz nüchtern seinen vorgeschriebenen Weg geht? Dass nicht da und dort, ohne dass wir’s ahnen, Dinge geschehen, die außerhalb des Herkömmlichen liegen?«
Hurra, jetzt hat sie sie vielleicht dort, wo sie sie haben will. Das Romantische! Darauf muss sie doch anbeißen, diese liebe, brave Kuh!
Friedel zieht den zweiten Stuhl heran, der sich im Zimmer befindet, sie setzt sich, schlägt die Beine übereinander und fühlt sich als Mann: ein merkwürdiges Gefühl, das in der Erregung dieser Stunde einer Suggestion gleichkommt.
»Ganz richtig sehen Sie aus …«, stottert Käthe. »Und Sie wollen also? …. Das ist doch verboten! Wenn die Polizei …«
»Erstens weiß ich gar nicht bestimmt, ob das verboten ist, und zweitens, selbst wenn ich gefasst werde, kann es mir nur nützen. Die B. Z. am Mittag wird den verkleideten Liftjungen als Sensation ausrufen, eventuell bin ich gemacht. Selbstverständlich bleiben Sie, liebe Käthe, in einem solchen Fall vollkommen aus dem Spiel. Ich habe die Sachen ohne Ihr Wissen aus dem Schrank genommen. Schließlich hätte ich das ja auch wirklich tun können, nicht wahr?«
Nein, in normalem Zustande befinde ich mich nicht, denkt Friedel. Ich habe Fieber. Aber das muss sein, sonst ginge die Sache nicht vorwärts. Das braucht Triebkraft! Höchstspannung!
»Unmöglich!«, sagt Käthe störrisch. »Nee, nee, da mache ich nich mit. Das ist Irreführung der Behörden! Jawoll, das is es!«
Friedel steigt das Blut zu Kopf. »Bitte schön, sollen sie mir Arbeit geben, die Behörden, dann brauche ich sie nicht irrezuführen. Schädige ich jemanden? Nein! – Stehle ich? Nein. Wenn einer ehrlich arbeiten will, so ist das keine Missetat. Glauben Sie, es macht mir Spaß, so etwas anzustellen? Wie?«
»Ach Gott … Bornemännchen …« Ratlosigkeit. Zwei blaue Augen, die in Wasser schwimmen.
Friedel fährt zu reden fort. Sie, die immer Schweigsame, ist plötzlich angekurbelt. Und je länger sie spricht, desto mehr schrumpft Käthe ein. Alles an ihr wird schlaff: die Arme, die Beine, die Wangen. Wie ein hypnotisiertes Kaninchen sitzt sie da. »Und wie wollen Sie hier aus der Wohnung raus. Wenn jemand Sie erkennt –?«
»Gefährlich ist nur Minna, weil die schon um sechs aufsteht. Aber man braucht bloß abzuwarten, bis sie das Wohnzimmer zu räumen beginnt, dann kann man mit zwei Schritten bei der Tür draußen sein. Auf den Treppen fürchte ich nichts mehr. Hier wohnen so viele Menschen im Haus, dass sich keiner um den anderen kümmert.«
Käthe atmet schwer. Es ist das Aufregendste, was sie je erlebt hat. Dieser feine Junge, der vor ihr auf dem Sessel sitzt, ist nicht mehr Bornemännchen, die man bemuttern konnte – es ist etwas Fremdes, Verblüffendes, vielleicht sogar Reizvolles!
»Ich will natürlich nicht behaupten, dass Liftboy eine glänzende Stellung ist, doch schützt sie wenigstens vor Kälte, vor Hunger und vor Obdachlosigkeit. Das heißt schon sehr viel. Über den Winter muss ich hinwegkommen, verstehen Sie! – Von den Papieren nehme ich nicht alle mit, sondern nur diejenigen, die ich brauche. Alles stimmt vorzüglich. Das Schicksal wirft mir diese Gelegenheit geradezu in den Schoß. Friedrich Kannebach war achtzehn Jahre alt und hatte normale Zeugnisse. Das genügt.«
Der Wiener Milena Verlag ist nicht nur durch seine popkulturellen Publikationen bekannt, durch Krimis und bunte Anthologien, sondern auch durch sein Faible für verloren gegangene oder in Vergessenheit geratene Literatur. Um ein solches Werk handelt es sich beim “Pagen vom Dalmasse Hotel”.
Der Roman erschien erstmals 1927. Die Autorin, die vor allem als Journalistin vor der Machtergreifung der Nazis sehr umtriebig war, schildert darin die Geschichte eines jungen Mädchens. Friedel braucht dringend einen Job, doch für mehr oder minder ungelernte junge Frauen gibt es nichts zu holen am Arbeitsmarkt. Bevor sie verhungert, versucht sie auf andere Weise an einen Beruf zu kommen. Sie verkleidet sich als Junge und heuert als Page in einem noblen Hotel an. Dort begegnen ihr der amerikanische Geldadel und die letzten Reste der europäischen Aristokratie. Die einen sind freundlich zum schönen jungen Liftboy, die anderen brüsk und herrisch.
Die Geschichte atmet den Geist der Zwischenkriegszeit mit Härten, Entbehrungen, aber auch dem einen oder anderen Luxus. Das Vergnügen wird bei allen, die es sich leisten können großgeschrieben, als hätte man geahnt, wie es ab 1938 weitergehen wird. In dieser genauen, detailreichen Beschreibung der Zeit liegt die Stärke des Romans. Er ist stilistisch an der Populärliteratur angelehnt. Er sollte das damalige Publikum unterhalten, darunter wohl viele junge Frauen, die sich ein so mutiges Vorgehen erträumt hatten.
Friedel ist freilich nicht die einzige, die ihre Identität verschleiert. Auch so mancher scheinbar noble Herr schwindelt sich durch die harten Jahre in der Großstadt. Der Kontrast zwischen dem ruhigen und friedlichen Leben am Lande und der schroffen urbanen Realität wird bis zum durchaus unerwarteten Happy End betont. Die Abgründe, die Autoren wie Döblin von der Zwischenkriegszeit zeigen, spart Peteani tendenziell aus. Das mag in manchen Passagen zwanghaft heiter und naiv wirken, macht den Roman andererseits auch heute greifbar. Denn in den gegenwärtigen Krisen sind wir auch oft genug gezwungen, uns zu verstellen. Und dass klassische binäre Geschlechterrollen hinterfragt werden, ist heute wohl mehr als offenkundig. Eine gut in Szene gesetzte Handlung und ein Buch, das uns in eine Welt führt, die anders, aber nicht besser war als die unsere.
Großes Lob an dieser Stelle für die liebevolle Edition und das fachkundige Nachwort von Peter Zimmermann.
Haubentaucher, Juni 2024
Crossdressing in Krisenzeiten
Nichts für die Nazis: Ein wiederentdeckter Berlinroman von 1933 amüsiert mit
Großstadt-Flair und Geschlechter-Switch
Friedel Bornemann, 22 Jahre alt, sucht seit Wochen Arbeit, leider braucht niemand eine Verkäuferin, Kellnerin, Küchenhilfe. Wir befinden uns in den 1920er-Jahren in Berlin. Es ist Weltwirtschaftskrise, für Frauen bleibt da oft nur die Prostitution. Friedel wechselt lieber das Geschlecht: Im Anzug und mit dem Ausweis eines verstorbenen Kellners bewirbt sie sich als Page in einem Hotel.
Was folgt, ist Geschlechterschwindel in schicker Umgebung, vermischt mit einem Kriminalfall, einer Liebesgeschichte und Einblicken in die Salons und Suiten einer Nobelherberge wie in deren Wirtschaftsräume, wo „übermüdete, unausgeschlafene Angestellte“ für Service und Komfort sorgen.
Außerdem führt der Roman in die Hinterhofwohnungen, Kneipen, Tanzpaläste, Theater, billigen und teuren Restaurants von Berlin – eben dorthin, wo Gäste und Bedienstete außerhalb des Hotels hingehen.
An ihrem neuen Arbeitsplatz trifft Friedel, beziehungsweise Friedrich, wie sie sich nun nennt, steinreiche Amerikanerinnen, deutsche wie italienische Adelige, Zimmermädchen mit Schnapsflasche im Besenschrank, einen Kollegen, der „trinkgeldbeflissen um die Gäste herumgrinste“ und zu Hause eine lungenkranke Frau versorgen muss. Manches erinnert an Vicki Baums Bestseller „Menschen im Hotel“, manches an Romane von Hans Fallada oder Irmgard Keun. Maria Peteani macht daraus aber keinen kritischen Zeitroman, sondern größtenteils heitere Unterhaltung.
Ihre Friedel ist eine tatkräftige „Neue Frau“ wie aus dem Bilderbuch der Neuen Sachlichkeit. Als Friedrich in der goldbetressten Pagenuniform verliebt sie sich aber prompt und sehr unsachlich in einen männlichen Gast. Obwohl es auch damals fluide Geschlechter und Homosexualität gab in Berlin, ist „Der Page im Dalmasse Hotel“ kein Gender-Trouble-Text, spielt aber ein bisschen mit dem Thema. Die queere Subkultur wird erwähnt − „geschminkte junge Männer in dekolletierten Damentoiletten“ − und von einem ältlichen Grafen energisch missbilligt („Pfui Teufel!“).
Die femininen Züge des vermeintlich männlichen Pagen werden allseits kommentiert, er hat schnell den Spitznamen „Mädchen“ weg. Der Zimmerwirt sagt zu Friedel/Friedrich „puppiger Liftknabe“, die Zimmerwirtin mag den Mieter sehr.
Zusammen wollen sie „den Kleinen“ zwecks Ertüchtigung seiner Maskulinität zu einer Tanzunterhaltung des Sportvereins ‚Stramme Brüder‘ mitnehmen. Hotelgast Miss Mabel findet den zarten Pagen allerliebst und flirtet ihn an, Graf von Dahlen aus Zimmer 62 studiert dessen schlanke Figur, fühlt sich angezogen und schwer irritiert.
Am Ende wird das Geheimnis gelüftet, die Welt wieder sortiert. Warum und wie, wird hier natürlich nicht verraten. Als weit gereiste, verarmte junge Witwe eines Operntenors hatte die Linzerin Maria Peteani jedenfalls genug erlebt, um ihre Geschichte mit Farbe, Spannung, Romantik und sanfter Ironie auszustatten. Sie kannte selbst herbe Geldnöte, ja begann deswegen zu schreiben, sie verfasste Hörspiele, Erzählungen, knapp zwanzig Romane. „Der Page vom Dalmasse Hotel“ erschien 1933.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland im Jahr 1938 endete ihre Karriere, weil sie keinen „Ariernachweis“ erbringen konnte. Das erfährt man im Nachwort dieses Crossdressing-, Hotel- und Berlinromans, der die schillernden, dabei so zerrissenen Jahre der Weimarer Republik in eine kurzweilige und hochinteressante Geschichte packt.
Berliner Zeitung, Mai 2024 Der Milena Verlag entdeckt immer wieder mal Roman-Juwelen neu: „Der Page vom Dalmasse Hotel” ist ein sehr unterhaltsamer kleiner Roman von Maria Peteani, die in den 1920er Jahren große Erfolge als Schriftstellerin feiern konnte. Die Hauptfigur im „Pagen” ist die junge Friedel Bornemann die dringend eine Stelle in Berlin sucht. Sie hat kein Geld mehr und große Existenzangst. Als sie von einer Stelle als Liftboy im Dalmasse Hotel hört, entschließt sie sich, sich als Mann auszugeben, bekommt die Stelle und beginnt im Nobelhotel zu arbeiten. Die pfiffige Friedel, jetzt Friedrich Kannebach, schlägt sich gut und gerät unversehens in eine Betrugsgeschichte, die sie versucht aufzudecken, inklusive rasanter Verfolgungsjagd. Das alles ist charmant geschrieben, man bangt mit Friedel und hofft, dass ihr kleiner Schwindel nicht auffliegt. Und ja, es geht auch um Liebe und es gibt ein Happy End, aber das alles ist so fein beschrieben und hat so hübsche Wendungen, dass ich es mit großem Spaß bis zum Ende gelesen habe.
Lady-Blog.de, Mai 2024 Hier zum schön Anhören, Ö1: Radiogeschichten "Der Page vom Dalmasse Hotel" von Maria Peteani:
Berlin in den späten zwanziger Jahren. Arbeit für junge Frauen gibt es kaum, auch wenn diese fließend Englisch und Französisch sprechen. Aber Friederike Bornemann ist nicht auf den Kopf gefallen. Als Junge verkleidet, bewirbt sie sich als Liftboy in einem vornehmen Hotel. Und schon beginnt das Abenteuer.
Der Page vom Dalmasse Hotel, ein pfiffiger Unterhaltungsroman der österreichischen Autorin Maria Peteani (1888 – 1960), erschien erstmals 1933 und wurde gleich zweimal verfilmt. Der Grund liegt nahe. Schließlich ist das komische Potenzial von Travestiegeschichten unwiderstehlich. Ein weiteres Plus ist das sympathische Wesen der Heldin, die reichlich Gelegenheit bekommt, sich als detektivisches Naturtalent zu beweisen. Denn sie ist nicht die einzige Figur in diesem Roman, die eine geborgte Identität vortäuscht. Das ist ebenso wie die einhergehende Liebesgeschichte wenig überraschend, aber sehr kurzweilig. Denn Maria Peteani ist eine versierte Erzählerin, die souverän über ein reiches Repertoire an stilistischen Kniffen verfügt.
Ihre schriftstellerische Karriere aber nahm 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland, ein jähes Ende. Da eine ihrer Großmütter jüdisch war, konnte sie den „Ariernachweis“ nicht erbringen und erhielt Schreibverbot. Nach 1945 schrieb sie nur noch zwei nicht sehr erfolgreiche Romane. Ihre Werke aus der Vorkriegszeit, auch „Der Page vom Dalmasse Hotel“, wurden allerdings immer wieder aufgelegt. So ziert das Retro-Cover der schmucken Neuedition im Milena Verlag eine Zeichnung, die bereits 1962 auf dem Einband einer Buchclubausgabe zu sehen war. Ganz frisch und sehr lesenswert ist hingegen die literaturhistorische Einordnung des Romans im Nachwort des Kulturjournalisten Peter Zimmermann.
Culturmag.de, April 2024 Eine Wiederentdeckung
Unser Horizont hat sich derartig erweitert, dass auch unsere Rollenzuweisungen nicht mehr dieselben sind. Die Vorstellung, sich als Mann zu verkleiden, wenn man als Frau keinen Job bekommt, scheint jedenfalls – sofern literarisch verarbeitet – nicht halb mehr so prickelnd wie im Berlin Ende der 1920er-Jahre.
In Maria Peteanis’ flott und stilsicher auf „Neusachlich“ verfasstem Roman „Der Page vomDalmasseHotel“ – erstmals 1927 erschienen und nun neu editiert – dagegen ist dieser Sachverhalt der Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise und verbunden mit den damals offiziell immer noch geltenden prüden Moralgesetzen entfaltete ihre Camouflage sofort Bestsellerqualitäten, verfilmt wurde sie außerdem, gleich zweifach sogar, das erste Mal 1933. Was nichts daran änderte, dass die 1888 in Prag geborene Schriftstellerin 1940 ins Exil gehen musste.
Was aber heißt Camouflage? Nicht nur Verkleidung in stofflich-eindimensionalem Sinn. Friedel Bornemann, ein weibliches, ein bisschen androgyn wirkendes Wesen, weiß sich allerdings erst einmal nicht anders zu helfen, nachdem sie wieder einmal entlassen wurde, in ihrem Geldbeutel die absolute Ebbe feststellt und nicht einmal weiß, wo sie des Nachts unterkommen soll. Wenn ihre alte Bekannte Käte nicht gewesen wäre, hätte es übel ausgesehen: nicht nur, dass sie Friedel von der freigewordenen Stelle eines Pagen im Dalmasse Hotel erzählt („Schade, dass Sie kein Junge sind, Bornemännchen!“), sie lässt die arbeitslose 22-Jährige auch im Bett ihres am Potsdamer Platz totgefahrenen Neffen schlafen und bringt sie so auf eine schlimme Idee.
Deren Umsetzung in die Tat beginnt denn auch Friedel Bornemann, die jetzt Friedrich Kannebach heißt, bereits am übernächsten Tag: Sie greift sich den zivilen Anzug des Verstorbenen mitsamt seiner in einem Pass festgehaltenen Identität, bekommt von Käte, die Friseurin ist, einen Kurzhaarschnitt verpasst und wird tatsächlich eingestellt. Mehrsprachig wie sie ist, mit guten Manieren und „Grips in der Birne“ schlägt sie ihre Mitbewerber aus dem Rennen. Der Chef, die Portiers, die Köche, die Etagen-Kellner, die Stubenmädchen und nicht zuletzt die Gäste sind begeistert von dem etwas mädchenhaft grazilen neuen Pagen.
Nicht dass sich Maria Peteani nun ausschließlich in der Beschreibung des Luxuslebens im Luxus-Hotel Dalmasse gefiele! Schon dass sie den nicht ganz so groß wie das Adlon dimensionierten Prachtbau in der Nähe des S-Bahnhofs Friedrichstraße ansiedelt, wo sich (wie heute noch) die Obdach- und Arbeitslosen ballen, zeigt ihren Vorsatz, beide Seiten der hyperventilierendenWeimarer Republik zu zeigen. Denn nicht nur Friedel ist „falsch“ in dieser wunderhübschen Bleibe der gehobenen Kategorie, sondern jede Menge anderer Menschen sind es ebenfalls, für die das Absteigen in diesem Hotel gerade einmal eine Stufe vor ihrem moralischen oder finanziellen Ruin darstellt: die amerikanische Ölmilliardärin und deren Tochter, der italienische Graf auf der Suche nach einer reichen Frau, Spekulanten, Flaneure, Gigolos, die Geschädigten der europäischen Inflation und des amerikanischen Börsenkrachs. Ja, selbst der adelige Gutsbesitzer, der im ErstenWeltkrieg seine Hand verloren hat und Hilfe braucht beim Anziehen, ist „falsch“,weil er das Landleben vorzieht und in der Großstadt um seine Seele fürchtet. Dass sich Friedel ausgerechnet in ihn verliebt und vor einer Heiratsschwindlerin rettet, ist kein Zufall.
Der Wiener Milena Verlag hat schon einige Autorinnen und deren feministisch interpretierbaren Romane wiederbelebt, wie zum Beispiel – völlig zu Recht und absolut verdient – Anne Marie Selinko, Franziska Tausig oder Hertha Pauli. Ob die heute schwierigen Zeiten und die damals herrschenden Zustände vergleichbar sind, sei dahingestellt, genauso ob sich „Der Page vom Dalmasse Hotel“ im heutigen Sinn „queer“ lesen lässt.
Sicher ist, dass der Roman einen hohen Unterhaltungswert besitzt sowie beachtliche sprachliche Eleganz. Also nur zu! Zwei Identitäten sind besser als keine.
Die Rheinpfalz, Gabriele Weingartner, April 2024 FÜNF UHR MORGENS. Über dem Anhalter Bahnhof grauer Nebel, Verdrossene Men-schentrupps tappen frierend und eilig aus der großen Halle. Alles ist traurig, beziehungs-los und verdämmert.
Die ersten Sätze dieses Romans führen uns gleich mitten hinein in den Schauplatz: die Met-ropole, den Moloch, der für Menschen ohne Geld und Arbeit nur Grauen bereit hält. Berlin in den 1920er Jahren. Die Autorin kannte das Genre des Großstadtromans gut, beherrschte den Ton, der pa¬radigmatisch für die Literatur und das Kino jener Jahre war: Döblins „Berlin Alexanderplatz“ erschien 1929, zwei Jahre nach „Der Page vom Dalmasse Hotel“. Erich Kästners „Fabian“ kam 1931 heraus. Im Kino lief „Berlin Sinfonie der Großstadt.
In Maria Peteanis Roman steht eine junge Frau im Zentrum, die nichts Richtiges gelernt hat, weil das in dem für sie vorgesehenen Leben nicht nötig gewesen wäre, die aber immerhin – was ihr dann doch nützlich sein wird - Englisch und Französisch perfekt und ein wenig Italie-nisch kann. Die Stadt ist voll von Arbeitssuchenden, die Inflation beherrscht die Wirtschaft, die Not ist groß, aber es gibt auch den Glamour der „goldenen 20er Jahre“ – für die, die ihn sich leisten können. Die junge Friedel hat weder Geld noch Beziehungen, sie läuft sich die Füße wund, findet aber keine Stelle. Sie weiß nicht ein noch aus, als sich ihr eine ungewöhn-liche Möglichkeit eröff¬net. Ein junger Mann ist gestorben, seine Sachen und Zeugnisse hän-gen in einem Schrank ihrer Pension. Eine Travestiegeschichte beginnt. Aus dem jungen Mäd-chen wird ein junger Mann, der es tatsächlich – nicht zuletzt wegen seiner Fremdsprachen-kenntnisse – schafft, die Stelle des Pagen im mondänen Dalmasse Hotel zu bekommen.
Sensation: hier ist es märchenhaft elegant. Der Tagesportier steht an einem langen, spiegel¬blanken Pult, bepelzte Herren eilen über den dicken blauen Teppich oder sitzen debattierend in tiefen Klubsesseln. Damen sind zu dieser frühen Stunde noch nicht zu sehen. Friedel schluckt dies alles nur flüchtig im Durchschreiten in sich hinein. Ihr kleines Ich macht inner¬lich eine erschrockene Reverenz. Ein winziger Boy bedient den Lift, Sein Kindergesicht sieht müde und schlaff aus. Kollege gewissermaßen.
„Waren Sie schon mal in einem Hotel angestellt?, fragt der Liftchef, während sie in den Fahr¬stuhl steigen.
„Nein, aber ich lerne rasch.“
Das tut sie wirklich – diese begabte junge Frau, die nun als begabter junger Mann lebt und arbeitet. Ohne Schwierigkeiten vollzieht sie den Geschlechterwechsel, reüssiert im Hotel, verdient halbwegs ordentlich, vor allem das Trinkgeld ist entscheidend. Wir lernen das In-nenleben des glamou¬rösen Hotels kennen, das auf Ausbeutung und andauernder Müdigkeit seiner Angestellten baut. Aber nie, niemals dürfen das die zahlenden Gäste merken. Denn die, die im Dalmasse absteigen, sind wohlhabend, haben keine Sorgen. Sie dinieren in teuren Restaurants und ver¬gnügen sich in angesagten Bars. Es sind eine Handvoll solcher Men-schen, die hier porträtiert werden. Einige, die tatsächlich sind, was sie sind und andere, die nur vorgeben, zu sein, was sie scheinen. Da ist ein junger Mann, der so tut als verfügte er über ausreichende Mittel, der aber in Wahrheit dringend eine reiche Frau sucht. Allerdings ist die reiche Frau, die er umgarnt – wie sich später herausstellen wird – erstens überhaupt nicht reich und zweitens selber auf der Suche nach jemandem, der Reichtum verspricht. Das Karussell des Begehrens und des schönen Scheins dreht sich. Aus dem Roman über einen Geschlechtertausch aus Not, wird eine veritable Verbrecherjagd, an der der Junge, der ei-gent¬lich ein Mädchen ist, keinen geringen Anteil hat.
Maria Peteani erzählt rasant und bildreich. Folgerichtig wurde dieser Roman 1933 mit der strahlenden Dolly Haas in der Hosenrolle verfilmt. Und – natürlich geht es hier auch um die Liebe
Was ist das nun?, dachte die praktische, vernünftige Friedel, während sie irgendwo im Dunkel hinter der Loge des Portiers stand und die Hand auf ein Herz presste, das unter der Pagenjacke sein Unwesen trieb. Was ist das nun für eine Geschichte? Bin ich ver-liebt? – Ja, ich bin es… Herrgott, ist das schön!... Freilich auch unerhört dumm. Durfte man sich einen solchen Luxus leisten? Und warum nicht? Es tat so wohl. In zwei bis drei Tagen würde diese Stimmung oh¬nehin wieder vorüber sein, denn länger war man ge-wiss nicht verliebt, wenn der Gegenstand, dem die Gefühlte galten, durch Äonen der Unmöglichkeit von einem getrennt war. Diese zwei bis drei Tage gehörten ihr und soll-ten ausgekostet werden.
Dass es am Ende doch nicht nur „zwei bis drei Tage“ sind, das ist dem Genre des Unterhal-tungsromans geschuldet, in dem die Heldin am Ende doch ihren Prinzen bekommen muss. Der ist hier ein wohlhabender Landadliger, der ziemlich durcheinander ist. Nicht nur, weil er fast eine Betrügerin geheiratet hätte, der es gelungen war, ihn um den Finger zu wickeln, vor allem fühlt er sich zu dem jungen Pagen besonders hingezogen. Irgendwas stimmt da nicht: mit seinen Gefühlen oder dem Pagen? Unterschwellig geht es hier ziemlich modern um homoerotische Gefühle, die sich dann aber doch in die rechten Bahnen fügen, weil der junge Mann ja eine junge Frau ist. Das Ende dieses erfolgreichen, lange vergessenen und jetzt im Milena Verlag neu heraus gebrachten Romans ist allerdings offen. Das Happy End ist wahrscheinlich, aber wird nicht explizit erzählt. Anders als in der Romanverfilmung, in der die androgyne junge Frau zum Schluss als Gast an der Seite ihres Gatten, des reichen – aber: zu alten und zu schweren - Landadligen im Dalmasse Hotel eincheckt.
Ein solch gefälliges Ende hat die Autorin nicht nötig, sie beherrscht die Zwi¬schentöne und lässt die Möglichkeiten offen. Das ist unüblich im Unterhaltungsgenre.
Maria Peteani hat bis zu ihrem Publikationsverbot durch die Nazis 1940 - sie konnte keine lückenlose arische Herkunft nachweisen - 17 Romane ge¬schrieben. Das erfährt man in dem kenntnisreichen Nachwort, das auch das Leben dieser unge¬wöhnlichen Frau nachzeichnet. Wie ihre Heldin war sie offenbar eine praktische Frau, und wie der Page, der eine Pagin ist, wurde sie aus einem großbürgerlichen in ein prekäres Leben geworfen. Und wie Friedel hat sie gearbeitet, um zu überleben: Als Zeichnerin und – und vor allem – als Autorin, die es un-bedingt verdient jetzt wieder entdeckt und wieder gelesen zu werden.
ORF Ö 1, Ex Libris, Manuela Reichart, April 2024