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Buchreihen
216 Seiten
Hardcover
€ 23.00
ISBN 978-3-903184-23-7
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
FISCHSITTER
Alexander Keller ist Fischkenner und betreut Aquarien. Seine neue Freundin Mary nimmt ihn mit zu ihrer Familie – der 90. Geburtstag ihres berühmten Großvaters steht an. Die Feierlichkeiten werden vorbereitet, und Keller befreundet sich mit dem harten, alten Mann. Aber die Katastrophe ist unausweichlich. Ein hochintelligenter, wichtiger Roman über Familie, Kunst und uns.
Alexander Keller hat ein Händchen für Fische und setzt dieses äußerst lukrativ um – in Fischzucht, Aquariumsbetreuung und Gastronomie. Keller liebt Fische – lebendig, roh, gebraten. Diese Ambivalenz zwischen Fürsorge und Verschlingen zieht sich durch sein ganzes Leben. Kellers Freundin Mary, Enkelin des berühmten Künstlers und Gartenarchitekten Akira Benshi, stellt Keller kurz vor dem 90. Geburtstag ihres Großvaters ihrer Familie vor. Und es wird familiär kompliziert: Die Eltern definieren sich ausschließlich über Benshis Kunst, Benshi selbst schweigt, seit er seine Familie beim Atombombenabwurf über Nagasaki verloren hat. Doch als er Keller Fisch essen sieht, bricht er sein Schweigen, macht Keller zu seinem Helfershelfer bei der Neugestaltung seines berühmten Gartens – und verursacht lediglich dessen Verwüstung. Mary selbst wird wieder in längst vergangen geglaubte Familienstrukturen hineingezogen – und mittendrin Keller, der als Benshis „neuer bester Freund“ weit über den Rand seiner vermeintlichen Toleranz und seines Gleichmuts gebracht wird.
Ein Roman mit geschliffenem Stil, klug, fließend – aber dann!
Das Gelände füllte sich langsam. Die Wrecking Crew erschien, alle drei in Smokings, und sie begannen den »10 Millionen Euro, langsam verfeuert«-Scheiterhaufen wieder anzuheizen. Niemand störte sie dabei.
Dann tauchten stoßweise Gäste auf, und die Wiesen füllten sich recht schnell. Mary und Keller gingen etwas näher zur Bühne hin und sahen zu, wie die Besucher eintrafen und sehr interessiert die Umgebung in Augenschein nahmen: den Scheiterhaufen, das ausgebrannte Gartenhaus, die umgestürzten Schrottskulpturen, die ausgelassenen Kanäle mit den toten Fischen. Zwei, drei unternehmungslustige Leute waren auf einen der Hügel gestiegen und wiesen auf den Traktor hin, der mit einem Platten schief im niedergewalzten Weingarten hing. Leute kamen herbei, um Mary zu begrüßen, und es war recht leicht, unter fernen und nahen Bekannten Freund und Feind zu unterscheiden, »Mariko«, hieß es öfters, oder eben: »Mary!« Keller bekam zwanzigmal »Alexander Keller, mein Freund« zu hören. Jeder Frau, die ihr Kleid gelobt hatte, flüsterte Mary ein »Bitch!« hinterher, und Keller lachte jedes Mal.
»Ich wiederhole nur, was sie sagen«, sagte Mary.
Keller grinste und löste sich von ihr. »Ich werde deinem Vater ein bisschen Gesellschaft leisten.« Er drängte sich durch die anwachsende Gesellschaft und schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf.
»Das ist ja wieder einmal typisch, dass wir uns erst beim Ge-burtstag vom Bomben-Benshi wiedersehen!«, sagte ein Mann zu einem Paar.
»Der ist schon immer für eine Überraschung gut, oder?«
»Glaubst du, die toten Koi sind echt?«
»Plastik ... weißt du, was die echten kosten?«
Keller stellte sich zu der Gruppe, in der Merlicek-Vater stand, und legte ihm verwandtschaftlich-vertraut den Arm um die Schultern. Merlicek war gezwungen, ihn als »Alexander Keller, Marikos Freund« vorzustellen. Dann entschuldigte sich Merlicek bei der Gruppe, »man wird sich ja später sehen«, er müsse noch einige Leute begrüßen, und damit versuchte er Keller abzuschütteln. Keller blieb an seiner Seite.
Es war kein geringes Vergnügen, neben Merlicek durch die Leute zu driften und links und rechts zu grüßen. Der Hausberger, Landesrat für wasserwirtschaftliche Planung und weitaus kunstinteressierter als der Herr, der tatsächlich für die Kunstagenden des Landes Niederösterreich zuständig war, trat von sich aus auf Keller zu und wurde von diesem mit einer Umarmung begrüßt. Der Hausberger war ein guter Kunde und ein freundschaftlich verbundener Bekannter, der viel von Karpfen verstand und dann und wann Kellers Meinung zu Fischereirechten einholte.
»Das ist Thomas Merlicek«, sagte Keller und wies auf Merlicek-Vater, »Marys Vater!«
»Na geh«, sagte der Hausberger, »wie geht es denn der Mary? Die ist eine Merlicek, die Mary?«
»Ja, Benshis Enkelin!«
»So trifft man sich! Du, Alex –« der Hausberger zog Keller weg von Merlicek, »wegen der einen Geschichte ...« Keller entschuldigte sich, verwies auf seine Gastgeberpflichten und eilte Merlicek nach, der in den nächsten fünfzehn Minuten eine Lektion bekam, wer nicht alles in Fisch und Wasser tätig war und in Kellers Restaurants ein und aus ging. Keller ließ Merlicek dann von der Angel und verließ ihn, nachdem er ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft hatte: »Viel Erfolg!«
Sehr befriedigt machte sich Keller auf, um Mary zu suchen. Er fand sie etwas abseits, Benshi stand bei ihr und sprach auf sie ein. Beim Näherkommen fiel Keller auf, dass alle Augen Benshi suchten, aber niemand machte den Versuch ihn anzusprechen.
Mary und Benshi schwiegen, als er zu ihnen trat.
»So viele Gratulanten«, sagte Benshi und wies auf die Menge. Dann sah er seine Enkelin an. »Wirst du mir nicht zum Geburtstag gratulieren, Mary?«
Mary ohrfeigte Benshi, einmal, beiläufig. »Alles Gute«, sagte sie.
Benshi lachte und sagte: »Das wird ein guter Tag.« Dann wandte er sich an Keller und drückte ihm ein kleines Paket in die Hand, das in Geschenkpapier mit aufgedruckten Weihnachtsbäumen eingewickelt war. »Geschenk, Fischsitter«, flüsterte er, »erst später aufmachen, am Abend.« Er umarmte Keller, der beinah zurück-gezuckt wäre, wenn er die Zeit dafür gehabt hätte und wenn es sich völlig richtig angefühlt hätte. Dann war der Alte in der Menge verschwunden.
Keller sah, dass Mary ihn betrachtete.
»Bist du neidisch?«, fragte er sie.
»Nein. Ich wundere mich nur. Weil ich ihn ganz gut verstehen kann.« Sie wandte sich ab und betrachtete die Gäste, legte dabei aber einen Arm um seine Hüfte.
»Wird es langsam Zeit?«
»Bald.«
Sie nahmen von einem Kellner zwei Campari Soda und mischten sich unter die Leute.
Der österreichische Autor Paul Ferstl hat mit „Fischsitter“ einen hervorragenden Roman geschrieben, irgendwo zwischen Komödie und der Andeutung eines Psycho-Thrillers.
„Itadakimasu!“, das Wort, das man in Japan vor jedem Essen zu niemand bestimmten, am ehesten noch zu sich selbst, sagt, steht ganz am Anfang des neuen Romans von Paul Ferstl. Und somit ist eines schnell klar: in „Fischsitter“ wird viel gegessen, aber wenig zueinander gesprochen.
Alex Keller ist die Hauptfigur in dieser Geschichte, die als Komödie beginnt, aber nicht als solche endet. Keller ist Fischzüchter, Besitzer eines Wiener Aquariengeschäfts für superreiche Kunden und Speisefisch-Connaisseur zugleich. Irgendwie dreht sich in Kellers Leben also alles um Fische und dennoch hat er Angst vor offenen Gewässern, ganz typisch neurotischer Mittdreißiger. Seine Freundin Mary heißt eigentlich Mariko und ist die Tochter eines japanisch-tschechisch-österreichischen Kunsthändlerpärchens, die die Kunstwerke des Großvaters und international bekannten japanischen Künstlers Akira Benshi verwalten.
Dieser hat seit Jahrzehnten kein Wort mehr gesprochen, als Reaktion auf den Verlust all seiner Familienmitglieder beim Atombombenabwurf über Nagasaki. Das Schweigen wusste die Familie seither einerseits gekonnt zu vermarkten und hat Benshi als geheimnisvollen alten Japaner verkauft. Andererseits treibt das Nichtgesagte alle langsam in den verschrobenen Wahnsinn. Die Verwirrung und Empörung ist verständlicherweise groß, als Keller zum ersten Mal in den familieneigenen Vierkanthof in der österreichischen Peripherie geladen wird und Großvater Benshi ausgerechnet ihm eine - den Umständen entsprechend - viel zu banale Frage stellt, und damit sein jahrelanges Schweigen bricht.
Während Keller diese Ehre gar nicht zu verstehen vermag, sind Mutter, Vater und Tochter alle aus anderen Gründen betroffen über den plötzlichen Bruch des Schweigegelübdes. Hervorragend zeichnet Autor Ferstl die inneren und äußeren Kämpfe der einzelnen Figuren mit diesem Umstand nach, der für alle neu ist, außer für Keller, der den Großvater in seiner Schweigephase ja gar nicht kannte. Dem alten Japaner gefällt diese Unbefangenheit des Schwiegerenkels und so werden die beiden Verbündete, schmieden geheime Pläne, trinken viele teure Weine, reißen buchstäblich zusammen Bäume aus und essen Fisch. Jede Menge Fisch.
Es ist eine lustig-neurotische Szenerie, die Ferstl in den ersten Kapiteln von „Fischsitter“ entwirft, nicht selten muss man beim Lesen laut auflachen über die Dialoge zwischen Keller und Benshi, oder über die als absurd-komisch beschriebene Welt des Kunsthandels. Doch irgendwo schwingt auch immer das Gefühl mit, dass hier etwas nicht stimmt. Der Großvater, der so lange nichts gesagt hat, sagt plötzlich zu viel, nämlich auch Dinge, die seine Familie und vor allem auch Keller gar nicht hören will. Durch das Brechen seines Schweigens offenbaren sich plötzlich Dynamiken und Wahrheiten, die vorher viel zu lange todgeschwiegen wurden. Aus der anfänglichen Komödie wird ein gruseliges Kammerspiel am Rande eines Psychothrillers.
Plötzlich ist der Vierkanthof mehr Gefängnis als Ort künstlerischer Entfaltung. Das Herzstück des Anwesens - der sorgfältig geplante japanische Garten - wird zur Stätte von willkürlichen Zerstörungsakten, die der alte Benshi anordnet und Keller, oft gegen seinen eigentlichen Willen, hörig ausführt. Die einzelnen Familienmitglieder erleben in wenigen Tagen Zerfall und Ohnmacht, plötzlich wird viel zu viel gesprochen, aber nie miteinander.
Der Wechsel im Roman vollzieht sich so langsam, dass man es erst bemerkt, wenn man schon mitten drin ist im Sumpf dieser unheimlichen Familienaufstellung. Es geht nicht mehr um schrullige Künstlertypen und sonderbar-interessante Persönlichkeiten. Es geht nun um vererbte Traumata und die Gewalt, in der sich diese Traumata zeigen. Häusliche Gewalt, Gewalt gegen den eigenen Körper und scham- und rücksichtsloser Umgang mit Macht.
Der überdimensional große Gewalt-Akt eines Atombombenabwurfs, die physischen und psychischen Gewaltausbrüche einzelner Personen und nicht zuletzt auch die tödliche Gewalt, die gegenüber Fischen ausgeübt wird - das alles findet Platz in diesem spannenden Roman und wird schmerzhaft verflechtet. Dass aus diesem aber trotzdem noch ein beruhigendes Maß an Komik entspringt, ist eindeutig die Meisterleistung des Autors Paul Ferstl.
FM 4, Christian Pausch, November 2018