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Buchreihen
144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband
€ 23.00
ISBN 978-3-903184-41-1
vergriffen
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
ALS MEINE THERAPEUTIN SCHWIEG
Eine Psychotherapeutin und drei ihrer Klienten. Alle vier verbindet eines: Sie brauchen Hilfe. Ein Roman über das Geben und Nehmen im psychotherapeutischen Prozess, über die Verletzlichkeit der Menschen, über Stolz und Scham, und über die Möglichkeit der Hoffnung in der scheinbaren Unmöglichkeit eines Gesprächs.
Adriana ist Borderline-Patientin, sie verhält sich herausfordernd, aggressiv und neigt zur Selbstverletzung. Simon leidet an Depressionen, er sollte schleunigst seinen Job kündigen, kann sich aber nicht dazu entscheiden. Der achtjährige Adil spricht seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr, was seinen Vater sehr zermürbt. Sie alle sind Klienten von Tina K., einer Psychotherapeutin. Aber auch Tina K. hat etwas erlebt, das sie aus der Bahn geworfen hat – sie verliert als Folge dessen mehr und mehr die Kontrolle über ihr Leben. Während sie sich von ihrer Partnerin Martha zurückzieht, sucht sie sich in Klientin Adriana eine ebenso unpassende wie instabile Verbündete. Als ihr Klient Simon einen Selbstmordversuch unternimmt, gibt sich Tina die Schuld daran. Die notwendige Konsequenz scheint offensichtlich zu sein: die eigene Praxis schließen und sich selber Hilfe suchen. Wo aber findet diejenige Hilfe, die den Glauben an den Erfolg des Helfens verloren hat?
Lisa Mundts fesselnder Debütroman zeigt mit sprachlicher Präzision und psychologischer Tiefgründigkeit, was es bedeutet, anderen zu helfen, wenn man sich selbst nicht mehr zu helfen weiß. Meisterlich pointiert führt die Autorin durch die inneren Landschaften und Beziehungen der Figuren und erschafft damit ein atmosphärisches Kammerspiel, das in den Bann zieht.
Ihre Fingerkuppen streichen über den Bilderrahmen, der eine Fotografie von einer Schildkröte einschließt. Das Tier sitzt auf einem Felsen, seine Augen sind geschlossen. Sie kratzt sich rhythmisch am Kinn und betrachtet das Bild. Ich greife nach der Kanne und schenke uns beiden eine Tasse Pfefferminztee ein. Sie geht weiter durch das Zimmer. Ich beobachte sie. Dazwischen werfe ich einen Blick auf die Uhr. Ich stelle sie immer neben der Teekanne auf. Die Uhr ist eine Buddha-Figur, ihr Bauch ist das Ziffernblatt. Es hat aufgehört zu schneien. Das Fenster ist eine graue Fläche. Sie richtet ihren Blick an meinem Kopf vorbei und fixiert einen Punkt an der Wand. »Ich trinke keinen Tee.«
»Sie müssen ihn nicht trinken.«
»Sag Du zu mir.«
»Lieber nicht.«
»Sag Du zu mir.« Sie setzt sich. Ihr kantiges Knie spitzt in meine Richtung. Ich nehme einen Schluck Tee.
»Deine Kollegin hat mich dir vererbt.« Sie wippt mit dem Turnschuh. Ihr Blick wandert von der Wand zu meinen Augenbrauen und hängt sich dort fest. »Ich mag deine Kollegin nicht.«
Ich warte.
»Sie ist nämlich tot.«
Ich warte. Sie lacht.
»Nein. Ich bin tot.«
Ich warte.
»Vor fünfzehn Jahren habe ich mich erfolgreich umgebracht. Das hier –«, sie streckt die Fäuste in die Höhe und gibt einen Blick auf ihre Handgelenke und die weißen Bandagen frei, »– war nur ein Versuch.«
Ich nehme noch einen Schluck Tee. Sie wartet. Dann schiebt sie den rechten Daumennagel ins Nagelbett vom linken. Sie bückt sich nach ihrer Handtasche und zieht in derselben Bewegung ein
Taschentuch aus dem vorderen Fach. Sie presst es auf ihren Daumen. Durch den weißen Stoff sickert Blut. Mein Blick wandert zurück zur Handtasche.
»Warum kommt man dafür nicht ins Gefängnis?«
»Wofür?«
»Für den Mordversuch.«
»Sie meinen an sich selbst?«
»Noch habe ich niemand anderen umgebracht.«
Ich zucke mit den Schultern. »Das würde keinen Sinn ergeben.«
»Mordversuch ist Mordversuch.«
»Sie waren immerhin in der Psychiatrie. Bei meiner Kollegin.«
»Deiner Kollegin.«
»Ja.«
»Eingesperrt.«
»Eben.«
Sie zuckt auch mit den Schultern. Dann bückt sie sich wieder zu ihrer Tasche hinunter und zieht diesmal eine Zigarette hervor. Kein Feuerzeug. Das blutige Taschentuch fällt auf den Boden. Sie dreht die Zigarette zwischen ihren Fingern hin und her. Ich fange ihren Blick ein. Eines ihrer Augen ist aus Glas. Es ist schöner als das andere.
»Ich habe aufgehört. Mit dem Rauchen. Weil deine Kollegin gesagt hat, ich darf nicht mehr.«
»Ich habe nie aufgehört.«
»Du rauchst?«
»Schon lange.«
Sie wirkt verstört.
»Woran denken Sie?«
Sie greift an ihre Hüfte und hebt das karierte Hemd an. Ruck-artig, bis zum Hals. Ich sehe einen rosa Push-up-BH, weißes Narbengewebe und hell- bis dunkelrote Streifen. An einer Stelle hat sich die Kruste gelöst, ein dunkler Tropfen quillt aus dem Schnitt hervor. Sie zieht das Hemd wieder hinunter. Durch die aufgekratzte Stelle bildet sich ein Fleck. Dann beugt sie sich über ihre Oberschenkel. Sie setzt einen Fingernagel am Knöchel an und kratzt über das Schienbein. Die Strumpfhose sirrt. Sie zieht den schwarzen Nylonstoff auseinander. Er reißt. Ich sehe weißes Narbengewebe, zwei alte Brandwunden und blaue Flecken. Sie lehnt sich zurück und schlägt das rechte Bein über das linke, dann hebt sie die Zigarette auf.
»Ich bin oft hingefallen.« Sie zerbricht die Zigarette. Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
»Bist du traurig?«
»Nein.«
»Glücklich?«
»Nein.«
»Hast du Angst?«
»Manchmal.«
»Jetzt?«
Ich denke nach. »Nein.«
Sie nickt und zerreibt die Zigarette zwischen den Fingern. Der lose Tabak fällt auf den Teppich. Sie streift den rechten Turnschuh ab und verteilt die Krümel mit den Zehen in den weißen Fasern.
»Deine Kollegin ist eine Hure.«
Die Psychotherapeutin Tina K. ist eine gewissenhafte Person. Sie besucht Fortbildungen zu aktuellen Problemstellungen und protokolliert nächtelang die Gespräche mit ihren Klientinnen und Klienten, denen unterschiedliche Traumata das Leben erschweren.
Dem achtjährigen Adil setzen der Krebstod seiner Mutter und das (missverstandene) Verhalten seines Vaters so zu, dass er aufhört zu reden und aggressiv auf seine Umwelt reagiert. Simon Rapp drängen Stress und Unzufriedenheit im Beruf (seit Jahren will er die Firma verlassen) in eine Depression und zu einer finalen Entscheidung.
Diese hat Borderline-Patientin Adriana, die als 12jährige erstmals in der Psychiatrie gelandet und deren Körper durch ein weißes Narbengewebe, alte Brandwunden und blaue Flecken verunstaltet ist, bereits getroffen. Komplett "im Arsch", "offen und blutend" wähnt sie sich vor der auf ihren Gedärmen herumsteigenden Therapeutin, die sie als "dreckige, kleine Patientin einfach in den Müll" wirft. Adriana möchte auf weitere Behandlungen daher lieber verzichten und behauptet vor ihrem Freund, dass Frau K. ihr geraten habe, mit ihm Schluss zu machen, weil er ihr "nicht guttue und ihr Leben zerstöre".
Derlei Konflikte beanspruchen im Leben der auftretenden Personen ziemlich viel Raum. Entspannung ist höchstens dann in Sicht, wenn Tina K. sich einen Spinat-Auflauf mit Belugalinsen im Backrohr wärmt, ein Bad nimmt und hinterher mit ihrer Clique zusammentrifft, die sie als "gut gelaunte Truppe" bezeichnet.
Gute Laune zeigt sich in der Handlung des Romans aber eher selten. Zumeist ist die Atmosphäre weniger von zwischenmenschlicher Wärme als von individueller Verlorenheit geprägt. Dazu passt auch das im Text herrschende Wetter: Es ist Winter und schneit. Manchmal scheint auch die Sonne, doch es ist eisig. Ein starker Wind macht sich breit, der die mit analytischem Blick gezeichneten, sorgenvollen Stimmungen begleitet.
Ungeachtet ihrer fachlichen Kompetenz gerät auch Tina K., die als Erzählerin fungiert, in ein traumatisches Gefühlsdilemma. Ursache ist ein Mann, mit dem sie nach einer Konferenz an der Bar ins Gespräch kommt. Sie lässt sich auf der Toilette von ihm "ficken" und danach im Krankenhaus den dabei erlittenen "Fleck an der Schulter" versorgen und einen HIV-Test machen. Zur Anzeige bringt sie den Vorfall nicht. Selbst ihrer Freundin Martha, mit der sie seit zweieinhalb Jahren eine Beziehung hat, verheimlicht sie die erlittene sexuelle Gewalt.
Doch so zu tun, als wäre nichts gewesen, gelingt nicht. Als Martha sich aufgrund reduzierter Arbeitszeiten in der Tierhandlung ihre Wohnung nicht mehr leisten kann und bei Tina einzieht, kommt keine Freude auf. Martha scheint, als würde Tina lieber "in der Praxis als bei ihr im Bett" übernachten und sie sucht sich beleidigt eine Alternative, während Tina ausweichend erklärt, sie könne sich gerade "nicht so gut mitteilen". Und wie sollte auch alles klappen, wenn Martha "einfach ohne zu fragen einzieht"?
Zwischen beiden Freundinnen tut sich plötzlich eine schamhafte Kluft auf, Nähe und Vertrauen wollen sich nicht einstellen. Über erlittenes Leid zu sprechen, fällt nicht leicht. Tina verharrt in Schweigen, wo Martha sie allein wegen all den anderen Frauen zur Polizei "geschleift" hätte. Sie setzt weniger auf Rigorosität als auf Geduld und Verständnis, denn Tina will helfen. Dementsprechend bilden die Therapiestunden die Essenz des Romans, der in akzentuierten, authentisch wirkenden Dialogen und schnörkellosen Beschreibungen profunde Einblicke in die menschliche Psyche vermittelt.
Trotz des erlittenen Traumas und der Absicht, möglicherweise "die Praxis zusperren" zu wollen, scheint die fachliche Kompetenz und Motivation der Protagonistin ungebrochen. Denn weder setzt Simon Rapp zum Sprung aus dem Leben an, noch erweist sich Adil Yildiz' Stummheit als unüberwindliche Hürde.
Der Autorin gelingt es mit psychologischem Feingefühl sehr präzise zu zeigen, dass Menschen "nicht immer glücklich und wütend sein" können, genausowenig wie sie dafür gemacht sind, sich vollends in der Traurigkeit zu verlieren.
Lisa Mundt formuliert ausdrucksstark, erzählt flüssig und pointiert, ja frönt einem auf kurzen Aussagesätzen beruhenden, temporeichen Stil. Die minutiöse Darstellung aller Abläufe klingt bis ins Detail überzeugend.
Über die Fähigkeit, seelisches Leid aus sich hinaus zu atmen, verfügt niemand. Die Heldin Tina K. schafft es zumindest kurz vor Ende des Romans, in Schweigen versunken da zu sitzen. Sie atmet ein, hält den Atem an, atmet aus. Ihr "Rücken ist gerade und stark".
Eine auf schönen, unprätentiösen Dialogen und fesselnden Szenen beruhende Stärke durchzieht dieses luftige und gut zu lesende, einprägsame Debüt, in dem "Verschwiegenheitspflicht" glücklicherweise nur für die Therapeutin gilt. Man darf daher gespannt sein, was folgt!
Andreas Tiefenbacher, Literaturhaus Wien