Oft wird mir die Auseinandersetzung mit diesem scheinbar Wirklichen, das mich überall umgibt, wo ich mich befinde, zu viel. Ich verlange nach Auszeit. Ich versuche, der Common-Sense-Realität zu entwischen. Eine allzu wirklich wirkende Welt ist furchteinflößend. Es ist mühsam und zeitaufwendig, sich in ihr zu bewegen. Parallelwelten bieten Pausen. Sie sind Alternativen, wirken sowohl aufregender wie bequemer. Neben den herkömmlichen Methoden der Realitätsflucht machen es mir die technischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte immer leichter, mich dem zu entziehen, was augenscheinlich um mich herum und mit mir geschieht. Wille und Bedürfnis schwinden, mit dem Unmittelbaren dort draußen in Kontakt zu treten. Dennoch lohnt es sich, davon bin ich überzeugt, sich auf diese erkennbare Wirklichkeit so oft wie möglich einzulassen. Denn in ihr gibt es, neben so manchem Irrsinn, viel Schönes zu entdecken.
Mit der Auffassung, dass wir der echten Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, bin ich nicht allein und nie allein gewesen. Schon John Lennon sang vor fünfzig Jahren:
The sun is up,
The sky is blue,
It’s beautiful,
And so are you.
Als Teil einer Gruppe angloamerikanischer Künstler hatten sich die Beatles in Guru Maharishis Aschram im nordindischen Rishikesh eingefunden, um sich in transzendentaler Meditation unterrichten zu lassen. Prudence Farrow, die Schwester der Schauspielerin Mia Farrow, war besonders erpicht darauf, die Techniken dieser geistigen Erneuerungsbewegung zu erlernen. Sie litt unter depressiven Verstimmungen und sehnte sich danach, mittels des »yogischen Fliegens« die Wirklichkeit zu verlassen, in der sie feststeckte. Stundenlang kam sie aus ihrem verdunkelten Meditationsraum nicht heraus. John Lennon fand, dass sie übertrieb. Sich selbst wochenlang wegzusperren, um schneller als jeder andere Gott zu finden, erschien ihm als Sack-gasse. Also schrieb er den Song »Dear Prudence« für sie und wies Prudence auf die Schönheit nicht der transzendentalen, sondern der wirklichen Welt hin, die sie umgab. Die Sonne schien vom blauen Himmel, ein Lüftchen wehte, Vögel sangen. Prudence sei Teil all dieser Harmonie, textete er. Sie sei ein schönes Menschenkind, schön wie die Welt. Und die Welt war schön. Natürlich herrschte außerhalb des Aschrams, draußen in dieser wirklichen Welt, Krieg, nicht nur in Vietnam. Es herrschte Elend, Hunger, unfassbares Leid, nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Gegen all dies galt es sich zu positionieren und nichts unversucht zu lassen, um aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Niemand wird John Lennon vorwerfen, sich nicht für die Friedensbewegung eingesetzt zu haben. Dennoch: Die Welt war auch wunderschön. Auch das galt es festzustellen. Wer sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzt, muss die Schönheit des Augenblicks erkennen können. Sie liefert die
Gewissheit: Das Leben ist lebenswert. Entweder als großes Ganzes oder zumindest im einen oder anderen Ausschnitt erscheint es mir als das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Ängste beruhen meist auf dem Blick in die Zukunft. Die augenblickliche Gegenwart aber, zumindest in der Wohlstandsgesellschaft, in der ich lebe, ist sehr oft nicht erdrückend. Ich sitze, während ich diesen Satz schreibe, in einem beheizten Zimmer. Es ist Anfang 2019. Durch das Fenster blicke ich auf die schneebedeckten Dächer des Wiener Häusermeers. So sehr ich mir der menschenverachtenden Politik bewusst bin, die von der rechtskonservativen Regierung in diesem Land betrieben wird, während ich hier sitze; in diesem Moment lässt mich die Welt in Frieden arbeiten. Ich habe weder Hunger noch Durst. Ich muss nicht davon ausgehen, dass im nächsten Moment ein Blitz oder eine Bombe einschlägt. Es geht mir gut, jetzt. Und ich vermute, dass es auch Ihnen gut geht, jetzt, während sie diese Zeilen lesen, daheim, im Zug, im Café, wo immer.
https://oe1.orf.at/player/20191020/574393
(Ö1, ex libris, 20.10.2019)
Hans Platzgumer. "Die Zeit läuft uns davon"
Der Musiker und Autor erzählt in seinem neuen Buch davon, warum es uns auch gut gehen darf. Ein Interview über John Lennon, Greta Thunberg, Populisten und das Gesellschaftsklima.
Hans Platzgumers neues Werk „Willkommen in meiner Wirklichkeit!“ wäre ohne John Lennon nie entstanden. Denn das neue Buch des Musikers und Autors ist eine Meditation über eine Textzeile, die Lennon hinterlassen hat.
Dear Prudence, won’t you come out and play, the sun is up, the sky is blue, it’s beautiful and so are you. (John Lennon, 1968)
Dieses Zitat ist die Klammer von Hans Platzgumers Streifzug durch die Gegenwart. Ausgehend davon beginnt der Tiroler über die Welt und sich nachzudenken.
KURIER: Was haben Sie im Rahmen der Schreibprozesses über sich und die Welt herausgefunden?
Hans Platzgumer: Ich bin jetzt ein 50 Jahre alter Mann, ein Österreicher noch dazu, da wird die Neigung zum Nörgeln, Stänkern, Schwarzmalen automatisch ungeheuerlich groß. In den letzten Jahren sah ich aber nicht nur mich selbst und viele in meinem Umfeld, sondern ganze Gesellschaften in ein düsteres, zynisches und visionsloses Weltbild fallen. Ich habe wie die meisten von uns das Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein. Genau diese Perspektivenlosigkeit, in die wir gerutscht sind, wollte ich analysieren und herausfinden, wo und wie ein Umdenken stattfinden kann.
John Lennon spielt eine große Rolle in Ihrem Roman. Ein Vorbild für Sie?
Ich habe Idole immer verweigert. Jeder große Künstler hat auch des Öfteren danebengegriffen und Misslungenes produziert. Also lasse ich mich zwar von so manchem Einzelwerk begeistern, bin aber kein grundsätzlicher Fan von diesem oder jenem Star. Nur bei John Lennon leiste ich mir den Luxus, eine Ausnahme zu machen. Als er noch lebte, hatte ich ihn als alten Hippie abgeschrieben. Doch mittlerweile erkenne ich in ihm eine ungemein wichtige Inspiration, künstlerisch und politisch. Gerade heutzutage bräuchte die Welt wieder ein „Imagine“, einen Träumer, der seine Träume von einer besseren Welt in der wirklichen Realität umzusetzen versucht.
Sie beschäftigen sich in Ihrem Roman mit der vom Menschen verursachten Erderwärmung. Wie beurteilen Sie die aktuelle Debatte?
Als Menschheit sind wir immer wieder äußerst lächerlich. Wir begreifen zuerst ewig lange nicht, was wir eigentlich tun, dann fällt es einigen auf, denen aber fast niemand zuhört, dann verweigern wir das Offensichtliche, so lange es nur irgendwie geht, teils aus Bequemlichkeit, teils um aus momentanen Situationen kurzsichtigen Profit zu schlagen, und dann plötzlich, wenn es quasi schon zu spät ist, verfallen alle in eine Massenhysterie. In dieses Stadium scheinen wir mittlerweile wenigstens eingetreten zu sein. Jetzt – dank Greta Thunbergs „Fridays For Future“ – steht mit einem Schlag die Klimakrise ganz oben auf der Agenda.
Ist es nicht erschreckend, dass es eine 16-Jährige, eben Greta Thunberg, braucht, um die Menschheit aufzuwecken, etwas in Gang zu setzen?
Ich finde das nicht erschreckend, sondern es ist ein wunderbares Sinnbild. Eine Teenagerin zeigt den Herrschenden dieser Welt – großteils alten, machtgierigen Männern –, wohin sie uns gebracht haben. Doch sie zeigt es natürlich nicht nur den Herrschenden, sondern hält es uns allen vor die Nase, die wir diese Herrschenden als Herrschende auserkoren haben. Irgendjemand hat sie ja in ihr Amt gewählt. Thunbergs Protest richtet sich an uns alle. Sie hat recht: Wir alle müssen so schnell wie möglich unser Bewusstsein und unseren Lebensstil radikal ändern, unseren gesamten Umgang mit der Welt. Die Zeit läuft uns davon. Wir müssen auf der Stelle anfangen, alles neu zu denken.
Kurier, Marco Weise, 14.10.2019
„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ fragte schon im Jahr 1976 Paul Watzlawick in einem Buch, das sich rasch zu einem Bestseller entwickeln sollte. Dass diese Frage bereits vor der Digitalisierung aller Lebensbereiche gestellt wurde, die mit einem Schlag die analoge in eine digitale Wirklichkeit verwandelte, alles, was uns umgibt, in Nullen und Einsen zerlegte, und damit alles in alles verwandeln ließ, scheint heute gerade zu visionär. Die virtuelle Wirklichkeit vermag ein getreues Bild der wirklichen Wirklichkeit abzubilden, sodass es beinahe unentscheidbar wird, welche der vielen möglichen Wirklichkeiten die wirkliche, die reale ist.
Die Folgen dieses Transformationsprozesses, der bereits zur Zeit des Erscheinens von Watzlawicks Buch begonnen hatte, werden nun immer dramatischer sichtbar. „Ich weiß, dass ich nichts glauben kann. Da ich aber irgendetwas glauben muss, weil ich mich sonst in der Nichtigkeit meiner Existenz verliere, bleibt mir nur ein Ausweg: Ich glaube alles, was mir glaubhaft erscheint.“ (S. 98) Ob aber das Glaubhafte das Reale ist, ist unwichtig, solange es nur glaubhaft ist. Und wenn es nur mir glaubhaft erscheint.
Hans Platzgumer, „spätberufener“ Schriftsteller, dem es als einen jener wenigen Österreicher gelang, eine internationale Musikkarriere zu starten, heißt seine Leserinnen und Leser in seiner Wirklichkeit willkommen: eine Einladung, die Welt zu betreten, die auf seiner eigenen höchst subjektiven Wahrnehmung beruht, eine Wahrnehmung jedoch, die zwar die „furchteinflößenden“ Auswüchse des Realen wahrnimmt aber dabei die Schönheiten des Seins, der Natur und der Menschlichkeit nicht nur nicht aus den Augen verliert, sondern sie dorthin zurückholt, von wo sie, verscheucht von der Fragwürdigkeit und Beliebigkeit des Virtuellen, verschwunden ist: unser aller Bewusstsein. Denn „das Gegenteil von Schönheit ist nicht Hässlich-, sondern ‚Wurschtigkeit’“. (S. 16).
Es geht ihm nicht um die „großen erkenntnistheoretischen Fragen“, „nicht um die Fraglichkeit der Wirklichkeit an sich“, es geht ihm um die „Praxis: die Dinge an sich.“ „Meine Wahrnehmung der Wirklichkeit wird jener anderer Menschen mal mehr, mal weniger ähneln. Jeder hat seine eigenen Orte, Unorte, Zeiten, Unzeiten.“ (S. 9) Durch diese sehr persönliche Sicht der Dinge führt ein Song von John Lennon, den dieser im Jahr 1968 für Prudence Farrow, die Schwester der Schauspielerin Mia Farrow schrieb, als diese im nordindischen Aschram des Gurus Maharishi in Rishikesh einen Ausweg aus ihrer Depression suchte und sich, anstatt in die Welt zurückzufinden, mehr und mehr in Meditation und Traum verlor.
Dear Prudence
Won’t you come out and play
Dear Prudence
Greet the brand new day.
Diese Zeilen sind dem Buch vorangestellt und begegnen immer wieder als roter Faden, der aus dem Labyrinth der vielen Erinnerungen und Geschichten hindurch leitet. Platzgumer durchstreift mit einer bemerkenswerten Offenheit und Neugierde eine ganze Reihe von Welten und Wirklichkeiten, er reist durch das New York der 1980er Jahre, durch die Stadt Innsbruck seiner Jugend, durch Nordindien, er erinnert sich an Star Trek, die Katastrophe von Tschernobyl und den Film „The Mask“, dessen Sujet das Buchcover ziert.
Er entdeckt in diesen Welten Gutes und Schlechtes, kritisiert die Gleichgültigkeit der Menschen und deren „digitale Demenz“, sinniert über die Vergänglichkeit von Schönheit und die Unmöglichkeit, den Augenblick, an dem sich das Schöne zeigt, festzuhalten. Und er sehnt sich nach jener utopischen Gegenerzählung, die so dringend notwendig ist, um die Parallelwelten, in denen es sich die Menschen gemütlich gemacht haben, wieder ohne Angst verlassen zu können – „eine allzu wirklich wirkende Welt ist furchteinflößend“. Dabei geht es ihm nicht darum, die Widersprüchlichkeiten des Lebens zu verdecken oder die Technisierung zu verteufeln: „Wir müssen uns, von unserem Jetzt ausgehend, danach sehnen, irgendwo hinzukommen. Das Leben ist nichts ohne Ziel. Dieses Ziel muss nicht unbedingt erreichbar sein, aber es muss der Gegenwart einen Sinn geben.“
In neuen Kapiteln geht Platzgumer zunächst „Draußen spielen“, taucht in das „Schöne der Welt“ und danach in die „Virtual Reality“ ein, begibt sich in die „hyperventilierende Gesellschaft“, dann auf „Zeitreisen“, sitzt in Stille, arbeitet, und mit einem „Wimpernschlag“ ist die „Entwirklichung“ der Welt erreicht. In seinem 50. Lebensjahr unternimmt er einen Rundblick voller Hoffnung und Zuversicht. Reisebegleiter sind neben John Lennon unter anderem Platzgumers Mutter Eva und der Grafiker Stefan Sagmeister, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Aristoteles, Papst Franziskus und Otto Waalkes, Guy Debord und Roland Barthes aber auch Donald Trump und eine indische Kurzschwanzgrille, alle in kleinen Grafiken von Christoph Abbrederis ins Bild gesetzt.
Letztlich ist dieses Buch auch eine Liebeserklärung an die Schriftstellerei: „Schreiben heißt abheben. Der Autor irrealisiert die Welt. Utopisches ist für ihn nicht länger undurchführbar. Unmögliches ist möglich.“ (S. 90) Das Schreiben wird dabei weniger zur Flucht aus der Realität, sondern zur Möglichkeit, sie anders zu denken und neu zu gestalten. „Es mag durchaus stimmen, dass sich der Dichter gebärdet, als wäre er die große Weltenspinne selber. Er bietet die Wirklichkeit als Möglichkeit an und ebenso die Möglichkeit als Wirklichkeit.“ (S. 91) Von Vertrauen auf die Möglichkeiten des Wortes ist dieses Buch getragen: „So mag der Schriftsteller also noch so ein Betrüger, Schwindler, Erfinder sein; er ist Wirklichkeitsmensch.“ (S. 117) und hebt sich damit wohltuend von den vielen Dystopien und Untergangszenarien ab, die heute den Diskurs bestimmen. Es lenkt, ohne zu beschönigen oder das eigene schlechte Gewissen beruhigen zu wollen, den Blick darauf, dass eine Veränderung möglich ist. „Wer sich für die Verbesserung der Welt einsetzt, muss die Schönheit des Augenblicks erkennen können.“ (S. 13)
Literaturhaus.at, Eva Maria Stöckler, Oktober 2019