neuerscheinungen
literatur
comic
horror
klassiker
krimi
sachbuch
wissenschaft
zeitgeschichte
beastie_books
humor
glitzer_und_grind
Buchreihen
264 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband
€ 23.00
ISBN 978-3-903184-68-8
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
Teresa hört auf
Teresa wird es zu viel. All die Ansprüche, die Vorwürfe, die Schuld. Am Frausein, am Weißsein, am Geldhaben. In einer Gesellschaft, die alles immer mehr in Frage stellt, verliert sie sich aus den Augen. Sie zieht sich zurück und macht sich selbst zum Experimentierfeld. Verwechselt Ablehnung mit Freiheit. Ein messerscharfer Gegenwartsroman.
Teresa, knapp 30, Tochter eines Gynäkologen und einer Psychotherapeutin, arbeitet in einer Maturareisen-Agentur. Die Arbeit dort erscheint ihr sinnlos, die Generation Selfie hängt ihr zum Hals heraus. Teresas Weltsicht hat sich in den letzten Jahren immer mehr verfinstert, Menschen sind ihr zu anstrengend, jede Begegnung ist mühsam. Selbst Tiere sind ihr suspekt.
Fortan macht sich die junge Frau selbst zum Mittelpunkt. Sie setzt sich Extremen aus – einem Dreimonats-Rhythmus, dem sie akribisch folgt: Tägliche Solariumbesuche, kein Waschen mehr, Fressorgien, Schlafentzug, die Strapazen geben sich die Klinke in die Hand. Ihre körperlichen Veränderungen hält die talentierte Zeichnerin in detaillierten Bildern fest. In Rückblenden wird auch Teresas Vergangenheit aufgerollt, darunter ihr freiwilliges Jahr in Ghana, das sich als ganz anders als erwartet, herausgestellt hat.
Teresa will widerstreben … all ihr wildes Streben schockiert aber eigentlich nur ihre Eltern. Und dann lernt sie beim Kühlregal im Supermarkt Nicole kennen: um die Fünfzig und fresssüchtig …
Alles muss man richtig machen. Aber wie geht das richtige Leben? Silvia Pistotnigs Hauptfigur Teresa vergeht vor lauter Müssen das Wollen. Pointiert, provokant, staubtrocken.
„Wir sind so erpicht, uns von unseren Eltern zu unterscheiden, und am Ende sind wir ihr Ebenbild.“
»Das passt zu Ihnen.«
Wenn ich sie jetzt frage, warum sie das glaubt, woher sie wissen will, was zu mir passt, was das überhaupt heißen soll, »zu mir passen«, dann wird sie ihren Mund halten und ich kann mich anschauen, in einem riesigen Spiegel. Ich werde mich nicht sehen. Nur ein Haar. Den Ausschnitt meines Mundes. Ich weiß, dass mir nichts passt, weder Blau noch Rot, kein Grün und kein Gelb, mir passt die Kälte nicht und nicht die Wärme, kein Lärm und keine Stille, die Welt nicht und was auf ihr passiert. Woher sollte gerade eine Vekäuferin wissen, dass mir nichts und nichts zu mir passt?
»Ich habe da eine Idee.« Sie legt den Zeigefinger über die Lippen, ihre Nägel sind lang, unecht und dunkelrot lackiert. »Lassen Sie mich kurz überlegen, einen Moment.« Sie verschwindet aus meinem Spiegelbild und kommt mit einem grauen Poncho wieder, den sie mir umhängt, als wäre ich eine Schaufensterpuppe. »Sieht auch gut aus.«
Sie kann nicht wissen, dass ich mich nicht erkenne, dass ich mich nicht sehe, egal, was sie mir an oder umlegt. Vor dem Spiegel bin ich ein nacktes Puzzle. Ich betrachte ihr konzentriertes Gesicht, ich will es aufbewahren, mache ein Selfie im Kopf und lege es in meinem Gedächtnisspeicher ab.
»Was sagen Sie dazu?«
Ich habe nichts zu sagen. Ich rülpse laut. Das Dosencola hat seine Wirkung nicht verfehlt. Auf dieses Getränk ist Verlass. Die Frau erschrickt. Fast lässt sie das Kleidungsstück fallen. Sofort darauf tut sie so, als wäre nichts passiert. Was für eine langweilige Reaktion. Wortlos gehe ich in die Kabine zurück. Ich stelle mir vor, wie sie den Kopf schüttelt, die Augen verdreht, leise seufzt, mich für die Arbeit verflucht, die ich ihr mache, und ich lächle. Ich mag es, wenn die Leute sich über mich ärgern, das sorgt für schlechtes Karma, und das schlechte Karma, das bin ich.
Fünf Oberteile und einen Poncho lasse ich auf dem Hocker liegen. Ich verlasse das Geschäft, verabschiede mich höflich, »Auf Wiedersehen«, sage ich sehr freundlich zu den Kleidern, Jacken und Hosen. Die Verkäuferin ist verschwunden. Wahrscheinlich hat sie sich ins Lager verdrückt und tippt mit ihren Krallen gerade eine WhatsApp an ihre Freundin: »Stell dir vor, da hat eine Kundin voll laut gerülpst! Ich pack es nicht!«
Draußen verweht der Wind Staub, Blätter und Zigarettenstummel. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Bekleidungsgeschäft betreten habe. Ich kaufe alles online, nur wegen der plötzlichen Hitze musste ich schnell leichte Hosen besorgen. Die vom Vorjahr habe ich weggeworfen, sie waren verwaschen, kaputt. Ich kaufe immer dieselben, jedes Jahr, keine Überraschungen, nur die Größe variiert manchmal, je nachdem, welches Projekt ich gerade am Laufen habe.
Auf dem Nachhauseweg ruft mich meine Mutter an, die Einzige, die noch immer versucht, mich als Freundin zu gewinnen. Ich hebe nicht ab.
Vor dem Hofer gibt es nur einen einzigen Einkaufswagen. Wir kämpfen, und ich gewinne; die Frau mit ihrem Gehstock und dem verfressenen Pudel, den sie noch anhängen muss, ist nicht schnell genug, ich erreiche den Wagen vor ihr und höre sie fluchen. Beim Hofer gilt Höflichkeit nicht, kein noch so mitleidsvolles Wesen kann mich hier aufhalten.
Im Geschäft ramme ich die Hüfte einer viel zu stark geschminkten Frau, ergattere die letzten Schokokekse und stoße mit einem Wagen zusammen, der bei den Fertigprodukten im Weg steht. Ich müsste mir einen ganzen Urlaubstag nehmen, um richtig einzukaufen. Warum nicht? Andere fahren weg oder rasten sich aus, machen irgendwelche unnötigen Wellnessurlaube in überteuerten Hotels, wo sie sich in versifftem Thermalwasser treiben lassen. Ich bin zynisch, oder? Mir reicht ein Urlaubstag, um mit Pensionistinnen und Jungmüttern an Regalen vorbeizuspazieren, die mir in ihrer Pracht entgegenleuchten. Wer braucht Natur, wenn es so viele Konsumwaren gibt?
Nach dem Einkaufen bringt mich der Lift in meinen Palast, denn ich bin eine Königin. Aber das ist nicht sicher, vielleicht bin ich auch eine Hexe und da oben ist mein Hexenhorst. Ich lasse die Säcke fallen und öffne die Terrassentür. Zu meinen Füßen liegt die Stadt, über mir ist nur noch der Himmel.
Das Handy reißt mich aus meinen Gedanken. Es steckt in meiner Tasche in der Garderobe, doch der durchdringende Ton macht vor der räumlichen Distanz nicht halt. Es läutet und läutet, kurz ist es still, dann beginnt es von vorn. Nur meine Mutter besitzt die Penetranz, gleich zweimal hintereinander anzurufen. Der Handyton, den ich für ihre Anrufe verwende, klingt wie eine Polizeisirene, vor der man davonläuft, als hätte man ein schlimmes Verbrechen begangen.
Ich muss es trotzdem eingeschaltet lassen, »Ich melde mich am Abend«, hat die Marketing-Frau von Coca-Cola gesagt und dabei gestresst geklungen. Wahrscheinlich muss sie während der Arbeitszeit ständig Facebook abrufen und über WhatsApp Herzchen verschicken.
Auf der Terrasse stehen zwei Stühle und ein Tisch, der Holzboden ist neu, die schmalen Balken aus Diamantnuss hat meine Mutter ausgesucht, ökologisch und optisch unaufdringlich, aber hochwertig. Genauso wie sie sein möchte. Mir ist ein Boden unwichtig, mit den schweren, protzigen Fliesen davor konnte ich genauso gut leben.
Von den unteren Wohnungen dringen Stimmen nach oben. Das Volk ist immer so lärmend, kann es nicht seinen Mund halten? Doch ich habe kein Heer, keine Getreuen, nur die Tauben können ihnen auf die Köpfe scheißen. Die Tauben sind meine Verbündeten, solange sie sich von mir fernhalten.
Ich ziehe mich in die Gemächer zurück, schließe die Terrassentür, obwohl es heiß und stickig ist, die Stimmen sind mir lästig. Hier hat sich meine Mutter noch nicht durchgesetzt – altmodische, viel zu kitschige Glanzfliesen zieren den Wohnzimmerboden, kalt und unpersönlich, passend für eine Königin. Oder eine Hexe.
Die „Generation Selfie“ rückt das Abbilden der eigenen Person in den Mittelpunkt. Die Art und Weise, wie sich junge Menschen mittels Selbstporträts ins virtuelle Schaufenster stellen, orientiert sich dabei am Gefälligen und an den ästhetischen Standards des Mainstreams. In gewisser Weise sei die Generation Selfie eine Generation von „Normopathen“, die sich lieber dem Geschmack der Masse unterwirft, als mit Individualität zu experimentieren - so eine Studie vom Institut für Jugendkulturforschung. Teresa, Mitte 30, Akademikertochter, die Protagonistin in Silvia Pistotnigs neuem Roman „Teresa hört auf“ verabscheut alles was diese Generation ausmacht. Sie ist gewissermaßen das Gegenteil einer Normopathin und beschließt eines Tages radikal aus der Gesellschaft auszusteigen.
Teresa wird alles zu viel - die Ansprüche, die Erwartungen, die Schuld. Sie weiß, dass sie ein privilegierter Mensch ist, bloß wie Leben geht, weiß sie nicht. Ökologisch unkorrekt zu handeln, sei ihr einziges Hobby, sagt sie.
Doch wie kann man weniger falsch leben? Wir beschweren uns auf Facebook darüber, dass die Reichen immer reicher werden und vergessen dabei: Die Reichen, das sind ja wir. In einer Welt, in der sich alles nur um Likes und Retweets dreht, will Teresa nicht mehr mitspielen. Sie will nirgends mehr hin, nichts mehr erleben und keine neuen Erfahrungen mehr machen. Denn selbst wenn sie zum abgelegensten Ort der Welt reisen würde, irgendwer wäre schon vor ihr dort gewesen und hätte das auf Instagram dokumentiert.
Teresa kann sich auch selbst nicht mehr erfassen. Ganz konkret ist sie nicht dazu in der Lage, sich im Spiegel zu erkennen, sich ein Gesamtbild ihrer selbst zu machen. Und so setzt sie ihren Körper alle drei Monate immer extremeren Projekten aus: Sie verzichtet auf Hygiene, Schlaf oder geht täglich ins Solarium. Gerade hat sie die Bulimie für sich entdeckt und in der adipösen Nicole eine Projektpartnerin bzw. Freundin gefunden. Die täglichen Fressorgien samt anschließendem Heraufwürgen kann man wohl auch als Kommentar zur Gesellschaft lesen. Darüber hinaus benutzt sie ihre neue Freundin als Spiegel oder, wenn man so will, als eine Art analoge Selfie-Kamera. Sie bittet Nicole sie exakt zu beschreiben, Körperteil für Körperteil, damit sie sich selbst zeichnen kann.
Teresa ist eine schräge, provokante Antiheldin, die mit ihrer Art des passiven Widerstands an die Protagonistin in Ottessa Moshfeghs viel beachtetem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ erinnert. Die Erzählerin verordnet sich darin ein Jahr Winterschlaf, ist mit ähnlich morbidem Humor ausgestattet und kommt ebenfalls aus gutem Hause - einzig die tragische Familiengeschichte fehlt Teresa.
Teresas Verhalten nimmt zunehmend psychopathische Züge an, etwa als sie mit Nicole und deren Sohn ein merkwürdiges Triptychon der Liebe eingeht. Man möchte sie rütteln und bitten wieder zur Besinnung zu kommen. Ähnlich geht es ihren Eltern, die angesichts des verstörenden Verhaltens ihrer Tochter verzweifeln. Leichter wäre es, gäbe es zumindest eine Erklärung oder Bezeichnung dafür: Eingeschränkte Sehfähigkeit kombiniert mit Borderline-Syndrom etwa, dazu autoaggressives Verhalten oder Depersonalisation. Doch Teresa entzieht sich allen Zuschreibungen und Diagnosen.
Teresa ist nicht mit der klassischen Opferbiografie einer psychisch kranken Person ausgestattet, sie ist einfach ein Opfer der Zeit. Denn sind nicht all jene Modediagnosen Symptome einer kranken Gesellschaft? Sich darin zu verorten und sich als Individuum zu definieren scheint in der Generation Selfie immer schwieriger zu werden. Silvia Pistotnigs brillanter Roman macht das auf beklemmende Weise spürbar.
Ex libris, 13.6.2021, Beitrag: Claudia Gschweitl