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Buchreihen
€ 25.00
ISBN 978-3-903460-08-9
248 Seiten
gebunden mit SU, Leseband
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
DIE HALBE WELT
Dies ist die Geschichte der Halben Welt, die Utopie wurde Wirklichkeit. Die Grenzen sind gezogen, das Territorium geräumt, Menschen dürfen nur noch in ihrer Hälfte der Erde leben, die andere Hälfte wurde zum Naturschutzgebiet erklärt. Ein packender Roman über Moral und Wissenschaft, der die Geschichte der Gegenwart fortspinnt und die Zukunft in einer geteilten Welt entwirft.
Das Zeitalter der Einsamkeit ist angebrochen, nachdem der Mensch sich über alles Leben gestellt hat. Die Hälfte der Erde wurde infolge der globalen Krisen zum Schutzgebiet erklärt.
Als Sachbearbeiter in der Behörde zur Verwaltung der Halben Welt sieht Lilian es als seine Aufgabe, zukünftigen Generationen begreiflich zu machen, warum die Hälfte der Erde der Natur überlassen werden musste; er beginnt diese Geschichte aufzuschreiben. Zur Illustration seines Berichts will er die Arbeit zweier Wissenschaftler im globalen Wiederbewaldungsprogramm schildern. Die beiden sind bei einem Forschungsaufenthalt in der Halben Welt mutmaßlich verunglückt. Mit Fortdauer seiner Recherchen mehren sich allerdings Lilians Zweifel an der Ursache für ihr Verschwinden.
Bröderbauers dritter Roman verwebt Fakten und Fiktion. Wer darf bestimmen, wie das Zusammenleben auf Erden aussehen soll? Liegt die Zukunft darin, dass Menschen zugunsten der Natur in ihrem Lebensraum und ihren Aktivitäten beschnitten werden sollen? Wie es beispielsweise das „Half-Earth-Projekt“ des weltberühmten Biologen Edward O. Wilson plant? Ein absolut aktueller und zu Diskussionen anregender Roman.
Lilian verließ die Behörde. Er überquerte den Vorplatz und bog wie die anderen in die Allee ein. Der lang erwartete Regen war schon abgezogen, aber aus dem Blätterdach troff noch Wasser und verstärkte das Geräusch der vielen Schritte, die im Takt auf die Haltestelle zusteuerten. Dampf stieg vom Boden auf, ein Dampf ohne Geruch. Lilian war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um das neuerliche Versagen seines Geruchssinns zu registrieren, oder die warmen Tropfen, die auf seiner Stirn landeten. Zeile für Zeile ging er den Anfang seines Berichts durch. Gerade erst hatte er – endlich – begonnen, schon wollte er wieder alles abändern. Er musste eine Begründung ergänzen, warum der Mensch sein Anrecht auf die Halbe Welt verwirkt hatte. Keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung für die Menschen der Zukunft, die nicht mehr wissen würden, welche Argumente die öffentliche Meinung bestimmt hatten. Statt bis auf Weiteres sollte er schreiben, dass die Menschen ihr Anrecht auf die Halbe Welt für immer verwirkt hatten, um zukünftigen Lesern entgegenzutreten, die in diesem Punkt möglicherweise eine weniger entschiedene Haltung vertraten als er.
Die Frage, ob er überhaupt dazu geeignet war, die Geschichte der Halben Welt zu verfassen, stellte sich nicht mehr. Mit Tyskins Verschwinden hatte sich etwas geändert. In den vier Wochen, die er und Mark nun abgängig waren, hatte niemand aus der Familie um eine Stellungnahme gebeten. Wenn selbst für einen Tyskin die Regeln der Halben Welt galten, bedeutete dies, dass sie funktionierte. Es war Zeit, die Geschichte ihrer Entstehung aufzuschreiben, irgendjemand musste sie für die Nachwelt bewahren. Warum nicht er.
Kreischend flogen zwei grüne Schemen über Lilians Kopf. Er schaute nach oben und trat dabei in eine Pfütze. Als er stehen blieb, lief jemand in seinen Rücken. Der Mann fuhr erschrocken auf. »Schalte deinen Kopfraum ein, du Idiot«, sagte er im Vorübergehen, die Augen schon wieder nach innen gekehrt. Lilian verzichtete auf eine Antwort. Macht doch besser eure Augen auf, dachte er, und sah noch einmal zu den lärmenden Carolina-Sittichen hoch, die sich seit Kurzem auch im Zentrum der Stadt ausbreiteten. Er ging weiter, ohne seine nassen Schuhe näher zu inspizieren. Es war das einzige konzessionierte Paar für dieses Jahr.
Tyskins und Marks Fall war nicht nur deshalb relevant, weil ihr Verschwinden akzeptiert wurde. Die Informationen über die beiden Männer, die er für die Akte zusammengestellt hatte, erfüllten die Sammlung an Dokumenten, Stellungnahmen und Beschlüssen, die er vor Jahren mit großem Eifer und unklarem Ziel begonnen hatte, mit Leben. Gemeinsam fügte sich alles zu einer Geschichte der Halben Welt. Lilian sah sie Gestalt annehmen – die Mäzene, die den Anfang gemacht hatten, das globale Wiederbewaldungsprogramm als roter Faden, eingebettet in ein Mosaik aus abertausenden Paragrafen, Wortmeldungen, Bildern und Gesten. Er wollte versuchen, diese Geschichte zu erzählen. Er wollte darlegen, warum die Errichtung der Halben Welt die einzige valide Option für den Planeten gewesen war. Wo der Mensch sich breitgemacht hatte, würde er schreiben, waren die anderen Spezies ausgestorben. Die Menschenwelt war so konsequent umgesetzt geworden, dass für die Wildnis kein Platz mehr geblieben war. Die einzige Lösung war die Zweiteilung der Erde gewesen – eine Hälfte, innerhalb deren Grenzen die Natur als Ressource für die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse diente, die andere Hälfte, die dieser Logik entzogen und den natürlichen Prozessen überlassen wurde. Innerhalb der Grenzen dieser Hälfte würde alles wild sein.
Er würde auch anführen, dass es nach dem Scheitern der Klimaschutzbemühungen eines neuen Ziels bedurft hatte – eines erreichbaren Ziels. Nach den vielen Rückschlägen war deutlich geworden, wie leicht diese Idee im Gegensatz zu anderen Maßnahmen umsetzbar war. Man musste nur die Hälfte der Erde vom Menschen befreien und sich selbst überlassen. Dort, wo die Natur zu stark gelitten hatte, half ein weltweites Wiederbewaldungsprogramm der Wildnis auf die Sprünge. Es war ein Rückschlag für die Behörde, dass Mark ebenfalls verschollen war. Im Gegensatz zu Tyskin wog sein Verlust schwer, egal was man von ihm halten mochte. Es war noch kein Nachfolger ernannt worden. Sicher würde es jemand aus dem inneren Kreis der Behörde sein, dem man die Leitung des Wiederbewaldungsprogramms für das Neotropis-Zentral-Territorium übertrug. Die Position brachte es mit sich, dass man zu Studienzwecken in die Halbe Welt reisen durfte. Mark hatte von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Theoretisch konnte sich Lilian bewerben, auch wenn er nach seinem Studium keine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte.
Am Carson-Boulevard folgte Lilian den Kolonnen durch die Galerie der Halbweltfenster. Wo ein großer Ast auf die Reihen der Monitore gefallen war und den Durchgang versperrte, stockte der Strom. Einige Passanten kehrten um, andere krochen unter dem Ast hindurch. Es schien niemand verletzt worden zu sein. Lilian versuchte über den Ast hinwegzuklettern, wobei er sich nicht sehr geschickt anstellte. Nachdem er sich auf der einen Seite hochgezogen hatte, fand er auf der anderen keinen Weg hinunter. Er saß fest und blickte ratlos auf den leicht beschädigten Monitor, in dem sich der Ast verfangen hatte. Hunderte Gnus rannten darin auf ihn zu, bevor sie sich einen steilen Hang hinab in die Mara stürzten. Der Monitor flackerte und spielte dieselbe Szene immer wieder ab, als wäre es ein Video und keine Live-Aufnahme. Auf dem intakten Bildschirm daneben suhlte sich lebensgroß ein Sumatra-Nashorn im grün schimmernden Licht einer Nachtbildkamera. Sieben Uhr war es auf Sumatra, wie der Monitor anzeigte. Ein Kind, das unter dem Ast durchgeschlüpft war, presste sich gegen die Scheibe, als könnte es so mit dem Tier Kontakt aufnehmen. Unerwartet drang Lilian der Geruch von frischem Holz in die Nase, als er über die abblätternde Borke rutschte. Die Erinnerung an einen geköpften Baumstamm in der Sonne tauchte auf, an dessen harzigen Duft. Klein stand er unter dem Stumpf und atmete den Geruch des morschen Kadavers ein, seine Hand in der von Laura, die ihm zu erklären versuchte, warum der Wald starb. Verwirrt klammerte sich Lilian an den Ast und sah zu, wie eine Frau das Kind vom Monitor mit dem Nashorn wegzog. Schließlich sprang er hinunter, streifte seine Hose ab und ging in derselben Richtung wie Frau und Kind die Monitorgalerie entlang.
Irgendwann würde man die Halbweltfenster vielleicht abbauen, weil diese Szenen selbstverständlich geworden waren; weil es keiner Veranschaulichung mehr bedurfte, was alles in der Halben Welt vor dem Aussterben bewahrt worden war. Dann konnten sich die Nashörner nach Jahrtausenden menschlicher Verfolgung wieder ungestört im Schlamm suhlen, ohne auch nur von einer Nachtbildkamera beobachtet zu werden. Es war die Aufgabe der Behörde, diese Utopie zu verwirklichen.
Am Wilson-Platz – die überlebensgroße Statue Wilsons wies mit einer Lupe in die Richtung, aus der Lilian gekommen war – folgte er den anderen in den Untergrund. Heute würde er nicht den Fußweg durch den Botanischen Garten nehmen. Er hatte es eilig, nachhause zu kommen, er wollte die Arbeit an seinem Bericht fortsetzen. Er musste bei den Anfängen beginnen. Er musste alles aufschreiben, was er wusste.
Und was er nicht wusste? Er ließ den Gedanken gewähren, dass er notfalls in die Halbe Welt reisen müsste, um auch das herauszufinden.
Zurück zur Natur: David Bröderbauers Roman "Die Halbe Welt"
David Bröderbauer, geboren 1981 in Zwettl, ist im Botanischen Garten der Universität Wien für die Wissenschaftskommunikation zuständig. Mit seinem dritten Roman hat er nun seine beiden Berufe als Biologe und Autor auf ideale Weise verbunden. "Die Halbe Welt" greift den 2016 geäußerten Vorschlag des US-amerikanischen Insekten- und Evolutionsforschers Edward O. Wilson (1929–2021) auf, die Hälfte der Erdoberfläche als Naturschutzreservat ohne menschliche Eingriffe zu widmen.
Wie befinden uns in der Zukunft. Die Klimaerwärmung schreitet weiter voran, die Meeresspiegel steigen, großräumige Waldbrände sind Alltag. Doch die Menschheit hat ihr Dasein radikal umgestellt, um als Spezies weiter eine Überlebenschance auf diesem Planeten zu haben. Die Welt wurde geteilt - in eine "zivilisierte", urbane, von Menschen bevölkerte Hälfte, in der Ernährung und Fortpflanzung weitgehend nur noch künstlich möglich sind und echte Früchte teuer am Schwarzmarkt gehandelt werden, und in eine der Natur überlassenen Hälfte, in der riesige Wiederbewaldungsprogramme durchgeführt und aus der Menschen abgesiedelt wurden.
Lilian Wagner, bei der mächtigen Verwaltungsbehörde der Halben Welt für die äußerst restriktiv gehandhabte Ausstellung von Zutrittsberechtigungen zu den Reservaten zuständig (so sollen etwa Frauen im gebärfähigen Alter von dort ferngehalten werden, um zu verhindern, dass sich in der Natur Aussteiger-Gemeinden bilden), beginnt einen Bericht, der die Entstehungsgeschichte der Halben Welt für die Nachwelt festhalten soll. Bei diesem nüchternen Plan kommt ihm jedoch das Verschwinden zweier prominenter Persönlichkeiten dazwischen: Der Wissenschafter Thomas Mark und der Milliardär Joe Tyskins, beide zentrale Figuren bei der Realisierung des radikalen Renaturierungskonzepts, sind im Zuge eines Forschungsaufenthaltes in einem der Reservate abgängig gemeldet worden. Lilian versucht, mehr darüber herauszufinden.
"Die Halbe Welt" ist Climate Fiction, wie sie im Buche steht. Bröderbauer lässt viele wissenschaftliche Fakten - und wohl so manche Erfahrungen seiner eigenen Forschungsreisen nach Costa Rica - einfließen und entwickelt daraus eine mögliche Zukunftsvision. "Fridays for Future" wird darin im Rückblick "zum Symbol einer ohnmächtigen Jugend, die an ihren eigenen Zielen gescheitert war" und mit der Entführung der Trump-Söhne schließlich alles politische Kapital verspielte. Die Wende brachten Naturkatastrophen und massiver Kapitaleinsatz einiger Mäzene, die ihr Geld für Landkauf in großem Stil einsetzen - und ein Scheidungskrieg, in dem ein Großindustrieller gegen seine ökologisch engagierte Exfrau verlor.
Die human dominierte Hälfte scheint in Bröderbauers Vision weniger kultiviert als manipuliert, durch Schaffung künstlicher "Kopfräume", die das virtuelle Eingliedern des Einzelnen in die riesigen Serverfarmen besorgen, teilweise sogar bereits umoperiert. Auf die näheren Lebensumstände dieses Rests der Weltbevölkerung geht "Die Halbe Welt" nur am Rande ein, und auch der von Lilian verfasste Bericht über die Realisierung der Reservate, die von gigantischen und teilweise gewaltsam herbeigeführten Migrationsströmen begleitet wurde, geht weniger ins Detail, als man es sich wünschen würde. Denn die vergleichsweise triviale Detektivgeschichte, bei der Lilian über die schwangere Partnerin des verschwundenen Wissenschafters auf eine Fährte zu kommen hofft, nimmt immer mehr Platz ein. Das halbe Buch, möchte man sagen. Erst gegen Ende nimmt wieder Grundsätzliches Überhand.
Wilsons Schluss war, "dass die Lösung nicht in der Versöhnung von Mensch und Natur lag, sondern in deren Trennung": Die Hälfte der Erde sollte dem Blick der Menschen entzogen werden, "denn nur was der Mensch nicht sah, was seinem Wissen und damit seinem Zugriff entzogen war, konnte geschützt werden". Freiheits- und Forschergeist sind jedoch Teil der menschlichen Natur. Und so gibt es am Ende doch wieder einen neuen Aufbruch und die Hoffnung, es diesmal besser zu machen.
"There's no Planet B", heißt ein Slogan der Klimaschutzbewegung. Ein halber Planet A könnte schon reichen, lautet Bröderbauers These.
Salzburger Nachrichten, April 2023