€ 25.00

ISBN 978-3-903460-08-9
248 Seiten
gebunden mit SU, Leseband

Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.

Bestellen

Unsere Bücher sind natürlich auch im Buchhandel erhältlich.

David Bröderbauer

DIE HALBE WELT

Dies ist die Geschichte der Halben Welt, die Utopie wurde Wirklichkeit. Die Grenzen sind gezogen, das Territorium geräumt, Menschen dürfen nur noch in ihrer Hälfte der Erde leben, die andere Hälfte wurde zum Naturschutzgebiet erklärt. Ein packender Roman über Moral und Wissenschaft, der die Geschichte der Gegenwart fortspinnt und die Zukunft in einer geteilten Welt entwirft.

Das Zeitalter der Einsamkeit ist angebrochen, nachdem der Mensch sich über alles Leben gestellt hat. Die Hälfte der Erde wurde infolge der globalen Krisen zum Schutzgebiet erklärt.
Als Sachbearbeiter in der Behörde zur Verwaltung der Halben Welt sieht Lilian es als seine Aufgabe, zukünftigen Generationen begreiflich zu machen, warum die Hälfte der Erde der Natur überlassen werden musste; er beginnt diese Geschichte aufzuschreiben. Zur Illustration seines Berichts will er die Arbeit zweier Wissenschaftler im globalen Wiederbewaldungsprogramm schildern. Die beiden sind bei einem Forschungsaufenthalt in der Halben Welt mutmaßlich verunglückt. Mit Fortdauer seiner Recherchen mehren sich allerdings Lilians Zweifel an der Ursache für ihr Verschwinden.


Bröderbauers dritter Roman verwebt Fakten und Fiktion. Wer darf bestimmen, wie das Zusammenleben auf Erden aussehen soll? Liegt die Zukunft darin, dass Menschen zugunsten der Natur in ihrem Lebensraum und ihren Aktivitäten beschnitten werden sollen? Wie es beispielsweise das „Half-Earth-Projekt“ des weltberühmten Biologen Edward O. Wilson plant? Ein absolut aktueller und zu Diskussionen anregender Roman.

Lilian verließ die Behörde. Er überquerte den Vorplatz und bog wie die anderen in die Allee ein. Der lang erwartete Regen war schon abgezogen, aber aus dem Blätterdach troff noch Wasser und verstärkte das Geräusch der vielen Schritte, die im Takt auf die Haltestelle zusteuerten. Dampf stieg vom Boden auf, ein Dampf ohne Geruch. Lilian war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um das neuerliche Versagen seines Geruchssinns zu registrieren, oder die warmen Tropfen, die auf seiner Stirn landeten. Zeile für Zeile ging er den Anfang seines Berichts durch. Gerade erst hatte er – endlich – begonnen, schon wollte er wieder alles abändern. Er musste eine Begründung ergänzen, warum der Mensch sein Anrecht auf die Halbe Welt verwirkt hatte. Keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung für die Menschen der Zukunft, die nicht mehr wissen würden, welche Argumente die öffentliche Meinung bestimmt hatten. Statt bis auf Weiteres sollte er schreiben, dass die Menschen ihr Anrecht auf die Halbe Welt für immer verwirkt hatten, um zukünftigen Lesern entgegenzutreten, die in diesem Punkt möglicherweise eine weniger entschiedene Haltung vertraten als er.
Die Frage, ob er überhaupt dazu geeignet war, die Geschichte der Halben Welt zu verfassen, stellte sich nicht mehr. Mit Tyskins Verschwinden hatte sich etwas geändert. In den vier Wochen, die er und Mark nun abgängig waren, hatte niemand aus der Familie um eine Stellungnahme gebeten. Wenn selbst für einen Tyskin die Regeln der Halben Welt galten, bedeutete dies, dass sie funktionierte. Es war Zeit, die Geschichte ihrer Entstehung aufzuschreiben, irgendjemand musste sie für die Nachwelt bewahren. Warum nicht er.
Kreischend flogen zwei grüne Schemen über Lilians Kopf. Er schaute nach oben und trat dabei in eine Pfütze. Als er stehen blieb, lief jemand in seinen Rücken. Der Mann fuhr erschrocken auf. »Schalte deinen Kopfraum ein, du Idiot«, sagte er im Vorübergehen, die Augen schon wieder nach innen gekehrt. Lilian verzichtete auf eine Antwort. Macht doch besser eure Augen auf, dachte er, und sah noch einmal zu den lärmenden Carolina-Sittichen hoch, die sich seit Kurzem auch im Zentrum der Stadt ausbreiteten. Er ging weiter, ohne seine nassen Schuhe näher zu inspizieren. Es war das einzige konzessionierte Paar für dieses Jahr.
Tyskins und Marks Fall war nicht nur deshalb relevant, weil ihr Verschwinden akzeptiert wurde. Die Informationen über die beiden Männer, die er für die Akte zusammengestellt hatte, erfüllten die Sammlung an Dokumenten, Stellungnahmen und Beschlüssen, die er vor Jahren mit großem Eifer und unklarem Ziel begonnen hatte, mit Leben. Gemeinsam fügte sich alles zu einer Geschichte der Halben Welt. Lilian sah sie Gestalt annehmen – die Mäzene, die den Anfang gemacht hatten, das globale Wiederbewaldungsprogramm als roter Faden, eingebettet in ein Mosaik aus abertausenden Paragrafen, Wortmeldungen, Bildern und Gesten. Er wollte versuchen, diese Geschichte zu erzählen. Er wollte darlegen, warum die Errichtung der Halben Welt die einzige valide Option für den Planeten gewesen war. Wo der Mensch sich breitgemacht hatte, würde er schreiben, waren die anderen Spezies ausgestorben. Die Menschenwelt war so konsequent umgesetzt geworden, dass für die Wildnis kein Platz mehr geblieben war. Die einzige Lösung war die Zweiteilung der Erde gewesen – eine Hälfte, innerhalb deren Grenzen die Natur als Ressource für die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse diente, die andere Hälfte, die dieser Logik entzogen und den natürlichen Prozessen überlassen wurde. Innerhalb der Grenzen dieser Hälfte würde alles wild sein.
Er würde auch anführen, dass es nach dem Scheitern der Klimaschutzbemühungen eines neuen Ziels bedurft hatte – eines erreichbaren Ziels. Nach den vielen Rückschlägen war deutlich geworden, wie leicht diese Idee im Gegensatz zu anderen Maßnahmen umsetzbar war. Man musste nur die Hälfte der Erde vom Menschen befreien und sich selbst überlassen. Dort, wo die Natur zu stark gelitten hatte, half ein weltweites Wiederbewaldungsprogramm der Wildnis auf die Sprünge. Es war ein Rückschlag für die Behörde, dass Mark ebenfalls verschollen war. Im Gegensatz zu Tyskin wog sein Verlust schwer, egal was man von ihm halten mochte. Es war noch kein Nachfolger ernannt worden. Sicher würde es jemand aus dem inneren Kreis der Behörde sein, dem man die Leitung des Wiederbewaldungsprogramms für das Neotropis-Zentral-Territorium übertrug. Die Position brachte es mit sich, dass man zu Studienzwecken in die Halbe Welt reisen durfte. Mark hatte von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Theoretisch konnte sich Lilian bewerben, auch wenn er nach seinem Studium keine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte.
Am Carson-Boulevard folgte Lilian den Kolonnen durch die Galerie der Halbweltfenster. Wo ein großer Ast auf die Reihen der Monitore gefallen war und den Durchgang versperrte, stockte der Strom. Einige Passanten kehrten um, andere krochen unter dem Ast hindurch. Es schien niemand verletzt worden zu sein. Lilian versuchte über den Ast hinwegzuklettern, wobei er sich nicht sehr geschickt anstellte. Nachdem er sich auf der einen Seite hochgezogen hatte, fand er auf der anderen keinen Weg hinunter. Er saß fest und blickte ratlos auf den leicht beschädigten Monitor, in dem sich der Ast verfangen hatte. Hunderte Gnus rannten darin auf ihn zu, bevor sie sich einen steilen Hang hinab in die Mara stürzten. Der Monitor flackerte und spielte dieselbe Szene immer wieder ab, als wäre es ein Video und keine Live-Aufnahme. Auf dem intakten Bildschirm daneben suhlte sich lebensgroß ein Sumatra-Nashorn im grün schimmernden Licht einer Nachtbildkamera. Sieben Uhr war es auf Sumatra, wie der Monitor anzeigte. Ein Kind, das unter dem Ast durchgeschlüpft war, presste sich gegen die Scheibe, als könnte es so mit dem Tier Kontakt aufnehmen. Unerwartet drang Lilian der Geruch von frischem Holz in die Nase, als er über die abblätternde Borke rutschte. Die Erinnerung an einen geköpften Baumstamm in der Sonne tauchte auf, an dessen harzigen Duft. Klein stand er unter dem Stumpf und atmete den Geruch des morschen Kadavers ein, seine Hand in der von Laura, die ihm zu erklären versuchte, warum der Wald starb. Verwirrt klammerte sich Lilian an den Ast und sah zu, wie eine Frau das Kind vom Monitor mit dem Nashorn wegzog. Schließlich sprang er hinunter, streifte seine Hose ab und ging in derselben Richtung wie Frau und Kind die Monitorgalerie entlang.
Irgendwann würde man die Halbweltfenster vielleicht abbauen, weil diese Szenen selbstverständlich geworden waren; weil es keiner Veranschaulichung mehr bedurfte, was alles in der Halben Welt vor dem Aussterben bewahrt worden war. Dann konnten sich die Nashörner nach Jahrtausenden menschlicher Verfolgung wieder ungestört im Schlamm suhlen, ohne auch nur von einer Nachtbildkamera beobachtet zu werden. Es war die Aufgabe der Behörde, diese Utopie zu verwirklichen.
Am Wilson-Platz – die überlebensgroße Statue Wilsons wies mit einer Lupe in die Richtung, aus der Lilian gekommen war – folgte er den anderen in den Untergrund. Heute würde er nicht den Fußweg durch den Botanischen Garten nehmen. Er hatte es eilig, nachhause zu kommen, er wollte die Arbeit an seinem Bericht fortsetzen. Er musste bei den Anfängen beginnen. Er musste alles aufschreiben, was er wusste.
Und was er nicht wusste? Er ließ den Gedanken gewähren, dass er notfalls in die Halbe Welt reisen müsste, um auch das herauszufinden.

Zurück zur Natur: David Bröderbauers Roman "Die Halbe Welt"

David Bröderbauer, geboren 1981 in Zwettl, ist im Botanischen Garten der Universität Wien für die Wissenschaftskommunikation zuständig. Mit seinem dritten Roman hat er nun seine beiden Berufe als Biologe und Autor auf ideale Weise verbunden. "Die Halbe Welt" greift den 2016 geäußerten Vorschlag des US-amerikanischen Insekten- und Evolutionsforschers Edward O. Wilson (1929–2021) auf, die Hälfte der Erdoberfläche als Naturschutzreservat ohne menschliche Eingriffe zu widmen.
Wie befinden uns in der Zukunft. Die Klimaerwärmung schreitet weiter voran, die Meeresspiegel steigen, großräumige Waldbrände sind Alltag. Doch die Menschheit hat ihr Dasein radikal umgestellt, um als Spezies weiter eine Überlebenschance auf diesem Planeten zu haben. Die Welt wurde geteilt - in eine "zivilisierte", urbane, von Menschen bevölkerte Hälfte, in der Ernährung und Fortpflanzung weitgehend nur noch künstlich möglich sind und echte Früchte teuer am Schwarzmarkt gehandelt werden, und in eine der Natur überlassenen Hälfte, in der riesige Wiederbewaldungsprogramme durchgeführt und aus der Menschen abgesiedelt wurden.
Lilian Wagner, bei der mächtigen Verwaltungsbehörde der Halben Welt für die äußerst restriktiv gehandhabte Ausstellung von Zutrittsberechtigungen zu den Reservaten zuständig (so sollen etwa Frauen im gebärfähigen Alter von dort ferngehalten werden, um zu verhindern, dass sich in der Natur Aussteiger-Gemeinden bilden), beginnt einen Bericht, der die Entstehungsgeschichte der Halben Welt für die Nachwelt festhalten soll. Bei diesem nüchternen Plan kommt ihm jedoch das Verschwinden zweier prominenter Persönlichkeiten dazwischen: Der Wissenschafter Thomas Mark und der Milliardär Joe Tyskins, beide zentrale Figuren bei der Realisierung des radikalen Renaturierungskonzepts, sind im Zuge eines Forschungsaufenthaltes in einem der Reservate abgängig gemeldet worden. Lilian versucht, mehr darüber herauszufinden.
"Die Halbe Welt" ist Climate Fiction, wie sie im Buche steht. Bröderbauer lässt viele wissenschaftliche Fakten - und wohl so manche Erfahrungen seiner eigenen Forschungsreisen nach Costa Rica - einfließen und entwickelt daraus eine mögliche Zukunftsvision. "Fridays for Future" wird darin im Rückblick "zum Symbol einer ohnmächtigen Jugend, die an ihren eigenen Zielen gescheitert war" und mit der Entführung der Trump-Söhne schließlich alles politische Kapital verspielte. Die Wende brachten Naturkatastrophen und massiver Kapitaleinsatz einiger Mäzene, die ihr Geld für Landkauf in großem Stil einsetzen - und ein Scheidungskrieg, in dem ein Großindustrieller gegen seine ökologisch engagierte Exfrau verlor.
Die human dominierte Hälfte scheint in Bröderbauers Vision weniger kultiviert als manipuliert, durch Schaffung künstlicher "Kopfräume", die das virtuelle Eingliedern des Einzelnen in die riesigen Serverfarmen besorgen, teilweise sogar bereits umoperiert. Auf die näheren Lebensumstände dieses Rests der Weltbevölkerung geht "Die Halbe Welt" nur am Rande ein, und auch der von Lilian verfasste Bericht über die Realisierung der Reservate, die von gigantischen und teilweise gewaltsam herbeigeführten Migrationsströmen begleitet wurde, geht weniger ins Detail, als man es sich wünschen würde. Denn die vergleichsweise triviale Detektivgeschichte, bei der Lilian über die schwangere Partnerin des verschwundenen Wissenschafters auf eine Fährte zu kommen hofft, nimmt immer mehr Platz ein. Das halbe Buch, möchte man sagen. Erst gegen Ende nimmt wieder Grundsätzliches Überhand.
Wilsons Schluss war, "dass die Lösung nicht in der Versöhnung von Mensch und Natur lag, sondern in deren Trennung": Die Hälfte der Erde sollte dem Blick der Menschen entzogen werden, "denn nur was der Mensch nicht sah, was seinem Wissen und damit seinem Zugriff entzogen war, konnte geschützt werden". Freiheits- und Forschergeist sind jedoch Teil der menschlichen Natur. Und so gibt es am Ende doch wieder einen neuen Aufbruch und die Hoffnung, es diesmal besser zu machen.
"There's no Planet B", heißt ein Slogan der Klimaschutzbewegung. Ein halber Planet A könnte schon reichen, lautet Bröderbauers These.

Salzburger Nachrichten, April 2023



"Wir alle sind Täter. Vergessen wir das nicht" (S. 8), stellt der Protagonist Lilian zu Beginn von "Die halbe Welt" fest. Wir alle sind verantwortlich für die Zerstörung des Planeten. Eine Einsicht, die in David Bröderbauers drittem Roman zur Prämisse eines Gedankenspiels wird: Angesichts des rasanten Aussterbens zahlreicher Spezies hat sich ein großer Teil der Weltgemeinschaft der Idee der 'Halben Welt' verpflichtet. Die Menschen ziehen sich aus der Hälfte der Welt zurück, um der Natur Raum zur Regeneration zu geben. Weder Zutritt noch Zugriff auf die Natur jenseits der Grenze ist gestattet: Der Mensch hat sein "Anrecht auf die Halbe Welt bis auf Weiteres verwirkt." (S. 7)
Diese Prämisse geht auf eine Idee des einflussreichen Biologen E.O. Wilson (1920-2021) zurück. Koryphäe auf seinem Gebiet, schlägt Wilson in einem seiner letzten Bücher, "Half-Earth: Our Planet's Fight for Life" (2016), eine aus seiner Sicht angemessen radikale Lösung für den exorbitanten Rückgang an Biodiversität vor: 50 Prozent der Erdoberfläche sollen zu Reservaten umgewandelt werden, um nicht nur das Überleben vieler anderer Spezies zu garantieren, sondern auch jenes des Menschen. Bröderbauer, selbst Biologe, spinnt diese Idee weiter, die Halbe Welt ist Wirklichkeit geworden: Menschen, die bisher in den Territorien der neuen "Schutzgebietsinseln" (S. 122) gelebt haben, wurden 'transferiert', wie der behördliche Euphemismus für "Vertreibung oder Enteignung" (S. 49) lautet, Fleischproduktion in Labore verlegt, Haustiere gibt es keine mehr: "In der Halben Welt wird die Wildnis bewahrt, nicht der Mensch." (S. 60) Nachdem das Zusammenleben von Mensch und Natur gescheitert scheint, hilft nur noch ihre radikale Trennung. Als letzter Ausweg soll die Welt zu Gunsten der Natur neu geordnet werden.
Einer der Grenzwächter der Halben Welt ist Lilian. Er arbeitet bei der namenlosen Behörde, die die beiden Welten verwaltet, und entscheidet über Anträge von Wissenschaftler:innen und Mäzen:innen, die die Halbe Welt besuchen wollen. Als Biologe und ehemaliger Aktivist ist Lilian zwar ein Verfechter der Halben Welt, kommt aber zusehends nur schlecht mit dem Leben in der menschlichen Hälfte der Welt und der Trennung von der Natur zurecht. Die Städte, in denen die Menschen leben, um Platz für Agrarflächen zu schaffen, sind vollständig digitalisiert, optimiert und kontrolliert. Lilian wohnt in einer ihm zugewiesenen "Wohnbox" (S. 125), eine spezielle Brille ermöglicht ihm Zugriff auf eine Vielzahl an Informationen und überwacht seine Körperfunktionen, frische Lebensmittel sind ein seltener Luxus. Obst, Kaffee, Wald kennen die Menschen nur noch aus Kindheitserinnerungen oder über die Vermittlung der "Halbweltfenster" (S. 144). Bildschirme, die das Leben in den Städten begleiten und die Wildnis jenseits der Grenze zeigen: Nashörner, die sich im Schlamm suhlen, Tukane in Baumkronen. Bildschirme, die vermitteln sollen, wofür die Einschränkungen und die subtilen und weniger subtilen Brutalitäten der Behörde notwendig sind. Die menschliche (Erfahrungs-)Welt ist geschrumpft und gleichzeitig virtuell ins quasi Unendliche erweitert: Elektronische Gehirnimplantate ermöglichen den Zutritt in einen "Kopfraum" (S. 41), eine virtuelle Welt, die ihre Träger:innen aber zunehmend in die Isolation und Weltentfremdung treibt.
In drei große Abschnitte geteilt, wird die Geschichte und Gegenwart der Halben Welt jeweils in zwei Strängen erzählt: Der eine ist ein von Lilian in Ich-Form verfasster Bericht über die neugeordnete Welt. Er versteht sich als Chronist, der emotionalen Abstand zu seinem Gegenstand wahrt, und versucht, nachfolgenden Generationen die Notwendigkeit des Errichtens der Halben Welt verständlich zu machen. Als Anlass und Aufhänger dienen ihm dabei zwei in der Halben Welt Verschwundene, ein Biologe und ein Milliardär, nach denen er sich auf die Suche macht. Der zweite Strang dagegen ist auktorial erzählt und verfolgt die langsame Renaturierung Lilians selbst. Von der isolierten Existenz im Großraumbüro geplagt, verlässt Lilian immer mehr die von der Behörde vorgegebenen Wege, bis er eines Tages – ganz in der Tradition von Mellevilles Bartleby – einfach nicht mehr hingeht. Stattdessen involviert er sich immer mehr in das Leben anderer, in das Leben der Partnerin des verschwundenen Biologen und in jenes einer Gruppe von Migrant:innen und Aussteiger:innen, die im Botanischen Garten leben und Pétanque spielen – einer der letzten Freiräume, die diese Hälfte der Welt noch zu bieten hat.
Denn was in der Trennung von Natur und Menschen abhandengekommen ist, ist der Sinn für Gemeinschaft, für (Körper-)Kontakt und Austausch mit Menschen außerhalb des virtuellen Kopfraums, aber auch mit der Natur. Etwas zu "spüren" (S. 50) ist nicht vorgesehen, wie die beharrliche Streichung des Wortes aus dem Bericht durch den virtuellen Textassistenten anschaulich zeigt. Was in der "Neuordnung der Welt" (S. 8) auf der Strecke geblieben ist, könnte man die Biophilie nennen, die dem Menschen (zumindest in der Sicht von E.O. Wilson) angeborene Fähigkeit, sich anderen Spezies zuzuwenden, Erfüllung im Kontakt mit der Natur zu finden. Eine Begabung, die in den volltechnisierten Städten der neuen Welt keinen Platz mehr hat. Lilian dagegen wird immer mehr zu jemandem, der für andere sorgt, der soziale Verbindungen herstellt und einen Ausweg aus seiner isolierten Existenz findet.
Bröderbauers Spekulation über die Idee der Halben Welt vermittelt nicht nur interessante wissenschaftliche Positionen zu Umweltschutz und Aktivismus, sondern vor allem auch Überlegungen zu Gemeinschaft, zur Position des Menschen in der Welt, und ob und wie das Leben des Menschen in oder mit der Natur stattfinden kann. Dabei lässt der Roman auch in die Zukunft extrapolierte politische Aspekte nicht aus, das Dilemma mit privaten Geldgeber:innen, die demokratische Prozesse umgehen, die Rolle von NGOs, Migration. Trotz – oder vielleicht wegen – der wissenschaftlichen Ansätze, die dem Roman zugrunde liegen, packt der Text und öffnet beim Lesen Imaginationsräume, nicht zuletzt wegen der feingliedrig-ambivalenten Zeichnung Lilians: Auf seinen rastlosen Wegen durch die Stadt scheint er konstant zu flimmern, verunsichert und doch seinen Weg suchend. Bröderbauer gelingt so eine kluge, plastische Reise in eine Welt, die nicht mehr nach dem Primat des Menschen geordnet ist, in all ihrer Zwiespältigkeit.

Literaturhaus Wien, Johanna Lenhart, April 2023


Die ältere Generation mag sich noch daran erinnern wie es war, als das Handy noch nicht unser Leben bestimmte. Als man Adressen, Namen oder Alltagsprobleme nicht googeln konnte und Menschen nicht mehr erreichbar waren, wenn sie ihre Wohnung verlassen hatten. Das Leben Mitte der 1990er Jahre ist noch nicht lange her, aber für heute 20-jährige kaum vorstellbar. -Was wird in dreißig Jahren sein? Geht es nach David Bröderbauer, haben die meisten Menschen dann einen Kopfraum eingesetzt bekommen, der sie durchs Leben navigiert, und sie dabei auch überwacht. Lilian Wagner, Bröderbauers Protagonist, ist allerdings bereits zu alt gewesen, als diese neue Technik erfunden worden war, die man nur ganz jungen Menschen einsetzen konnte. Er hat deshalb nur eine Art KI – Brille, zum Aufsetzen. Der Roman spielt in einer gesellschaftlichen Übergangszeit, Bröderbauer nennt es die „Wendezeit“. Der Klimawandel ist fortgeschritten, Nationalstaaten haben sich aufgelöst, NGOs haben eine neue politische Ordnung geschaffen. Damit die Menschheit überleben konnte, musste die Welt allerdings zweigeteilt werden. Im einen Teil leben die Menschen, den anderen Teil hat man der Natur überlassen.

Die Idee war, die Hälfte der Erde dem Blick des Menschen zu entziehen, denn nur was der Mensch nicht sah, was seinem Wissen und damit seinem Zugriff entzogen war, konnte geschützt werden. Die Genialität dieser Idee lag in ihrer Einfachheit. Die Mäzene griffen die Idee auf, die Behörde wurde gegründet, die Halbe Welt Wirklichkeit. Anders gelagert war die Wahrnehmungsverschiebung bei Greta Thunberg , einer jungen Frau, die als Ikone einer globalen Jugendbewegung berühmt geworden war. Es war ein Zwang zum Hinsehen, ein Nicht- Wegsehen können, der am Anfang ihres bemerkenswerten Aufstiegs zum Gesicht der damaligen Klimawandelproteste gestanden hatte. (Zitat S. 81)

Lilian Wagner arbeitet in der Behörde, die erschaffen worden war, um die menschenleere Hälfte zu bewachen. Wagner bearbeitet Anträge von Wissenschaftlern oder Mäzenen, die für eine begrenzte Zeit Zutritt bekommen können. Er kommt aus der Umweltbewegung, er war ein Idealist, findet sich nun aber als Mitarbeiter eines autoritären Überwachungsapparates wieder, den er zunächst unterstützt. Er beschließt, einen Bericht zu schreiben für die Nachkommenden Generationen. Er will erklären, wie das alles zustandegekommen ist.


Wollte man es sich einfach machen, könnte man behaupten, die großen Krisen der Wendezeit und der desolate Zustand der Erde hätten diesen Schritt unumgänglich gemacht. Aber so war es nicht. Im Gegenteil, hatten sich gerade wegen der zahlreichen Krisen viele Menschen gegen Veränderungen gesperrt. Letztlich waren Zufälle und Nebensächlichkeiten dafür ausschlaggebend, dass die halbe Welt gegen alle Widerstände errichtet werden konnte. Ein entscheidender Moment war, als sich einige der reichsten Menschen der Welt für die Natur zu interessieren begannen. (Zitat S. 13)

Die Gesellschaft, eng zusammengepresst auf der einen Hälfte der Welt, ist wesentlich straffer organisiert als heute, aber noch gibt es Schlupflöcher für die, die unbeobachtet sein wollen. Die Migros, Klimaflüchtlinge der unteren sozialen Schicht, haben sich illegal im Botanischen Garten eingenistet, spielen Boule und verdingen sich als Obst- und Gemüselieferanten – Frischware ist ein teures Gut, dass sich nur Reiche leisten können. Dann muss sich auch Julian vor der Behörde verstecken, weil er auf eigene Faust zu recherchieren beginnt, was hinter dem Verschwinden des Biologen Thomas Mark und des Miliardärs Jos Tyskin steckt, die von ihren Forschungstrips längst wieder aus der anderen Hälfte der Welt zurück sein sollten. Und er fasst einen Entschluss.

Seine Brille machte Lilian auf ein Lastenrad aufmerksam, das mit hohem Tempo den Weg herabkam. Sie vergrößerte den Oberkörper des Fahrers, der im Vorbeifahren die Hand hob und Lilian grüßte. Im Weitergehen spulte er die Sequenz zurück und ließ sich das Gesicht anzeigen. Auf dem Brillenglas erschien ein schmales Gesicht mit einem hellbraunen Teint, das vom System als der Migro aus dem Botanischen Garten identifiziert wurde, dessen Kugel er neulich aufgehoben hatte. (Zitat S. 65)

David Bröderbauer besticht durch das geschickte Verknüpfen von realen Ereignissen der Gegenwart mit einer fiktiven Zukunft. Bröderbauer lässt Lilian Wagner erzählen, wie sich aus den Umweltbewegungen und Initiativen, die es bereits heute gibt, immer wieder Neues entwickelte, wie Pioniere auftauchten und Reiche als Retter der Erde mitmischten. Wie nach der Sackgasse einer no-kids und no future Bewegung das positive Denken wieder in den Vordergrund rückte und sich WWF und Greenpeace schließlich in der Behörde zur Koordinierung der Halben Welt wiederfanden – zankend wie zwei politische Parteien in einer Regierung.

Der Behörde wurde vorgeworfen, die Errichtung der Halben Welt habe einen Flüchtlingstsunami ausgelöst, dabei ist der Großteil der Halben Welt peripherer Raum, aus dem die Menschen schon seit Jahrzehnten freiwillig und zu Milliarden abgewandert sind , nicht weil die Halbe Welt keinen Platz für die Menschen gelassen hätte, sondern weil der Bauernstand abgeschafft worden war und die Lebensgrundlage verlorenging. Die Errichtung der Territorien war im Gegenteil nichts anderes als die logische Konsequenz der Entvölkerung des ländlichen Raums. (Zitat S. 122)

Mit der Artenvielfalt geht die Ernährungsgrundlage und der medizinische Fortschritt verloren, der Klimawandel wird beschleunigt. Doch so richtig sichtbar wird das wohl erst, wenn es zu spät ist. Bröderbauers „Halbe Welt“ ist daher auch nur eine halb-fiktive Idee, von der man nicht ausschließen kann, dass sie einmal verwirklich werden muss, um die Menschheit zu retten. In abgeschwächter Form gibt es die Forderung nach menschenfreien Zonen ja bereits heute, etwa vom Künstler und Aktivisten Edgar Honetschläger, der Land kauft, um es der Natur zurückzugeben.

David Bröderbauer beschäftigt sich hier mit dem Phänomen, dass die Menschen nicht wirklich in der Lage sind, Probleme wie die Zerstörung der Artenvielfalt anzugehen. Obwohl es sie selbst in eine Katastrophe führen kann. Und wie dann aber eine dramatische Neuordnung wie die Zweiteilung der Welt innerhalb einer Generation so selbstverständlich werden kann wie das Smartphone in der Gegenwart. Eine packende Geschichte über einen kleinen Beamten, der das Weite sucht. Spannend, dystopisch, aber auch wissenschaftlich-informativ.

ORF, Ö1, Ex Libris, Beitrag: Hanna Ronzheimer

Top