€ 24.00

ISBN 978-3-903460-14-0
220 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband

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Christoph Salcher

ICH UND KEHLMANN

Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Wem können wir noch trauen?
Mit seinem letzten Geld reist Kevin Fellner aus der österreichischen Provinz nach Frankfurt am Main zur Buchmesse an. Im Gepäck hat er das Manuskript seines neuen Romans, der sicher ein Sensationserfolg wird, Fellner freut sich auf seinen Termin mit der Dame von Rowohlt. Endlich wird er so berühmt sein wie Daniel Kehlmann, wahrscheinlich aber noch berühmter.

Voller Tatendrang und Selbstbewusstsein erreicht Kevin Fellner sein Hotel in Frankfurt. Der hochtalentierte Autor und Kehlmann-Experte wird endlich den Vertrag für seinen Roman „Ich und Kehlmann“ unterschreiben. Kehlmann hatte seine Zeit, jetzt aber kommt die Zeit von Kevin Fellner. Der Vorfreude nicht genug, wohnt Kehlmann zufällig auch im selben Hotel, wenn das kein magisches Vorzeichen ist, ihm in seinem Zimmer einen Besuch abzustatten?

Der Titel des Romans „Ich und Kehlmann“ spielt auf Daniel Kehlmanns Satire „Ich und Kaminski“ an. Ein eitler, sich selbst maßlos überschätzender Ich-Erzähler versucht sein beinahe fertiges Manuskript bei einem renommierten Verlag unterzubringen. Auf der Buchmesse will er endlich sein Idol und Vorbild persönlich kennenlernen, das verspricht eine tolle und beiderseits inspirierende Freundschaft zu werden.
Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung treiben hier erneut ihr heimtückisches
Spiel. Wird Fellner die Buchbranche überzeugen können?

In Christoph Salchers humorvollem und gesellschaftskritischem Roman entsteht zunehmend eine Diskrepanz zwischen Fellners Wahrnehmung, seiner maßlosen Selbstüberschätzung und der Realität. In diesem Spannungsverhältnis
besteht die Komik des Romans, der als eine satirische Darstellung über die Sehnsucht nach Erfolg, nach Anerkennung, nach Heimat und Zugehörigkeit gelesen werden kann.

Mit tiefer Bruststimme stellte ich mich vor. Der Junge, mehrere Pickel im Gesicht, besonders auf der Stirn und um die Nase herum, war in seinem roten Lederfauteuil offenbar eingeschlafen. Jetzt richtete er sich langsam auf. Schlaftrunken rieb er sich mit beiden Fäusten die Augen. Dann schaute er mich an. Ich schätzte ihn auf nicht älter als siebzehn Jahre. Vom Liegen waren seine buschigen schwarzen Locken um den Kopf herum an mehreren Stellen eingedrückt. Ich wiederholte meinen Namen und fragte mich, wer dieser Knabe eigentlich war.
Gerade als ich meinen Namen ein drittes Mal sagen wollte – womöglich verstand er meine Sprache, meine mundartliche Färbung nicht –, behauptete er, Jürgen Schneider zu sein. Er habe über eine Stunde hier im Foyer auf mich gewartet und dabei ununterbrochen versucht, im Sitzen nicht einzuschlafen. Weshalb ich so spät käme, wollte er wissen. Punkt 14 Uhr sei
ausgemacht gewesen. Er habe ununterbrochen versucht, wiederholte er weiterhin sehr aufgebracht, aber mehr zu sich selbst als zu mir, im Sitzen nicht einzuschlafen. Er kenne jetzt jeden Artikel der heutigen SZ, und zwar in- und auswendig. Erst vor wenigen Augenblicken, versicherte er, sei er dann eben doch eingeschlafen.
An dieser Stelle wollte ich etwas erwidern, ihn darauf aufmerksam machen, dass er mit dem vereinbarten Zeitpunkt falsch lag, doch ließ mich der bedauernswerte Bursche nicht mehr zu Wort kommen. Er sei Jürgen Schneider, fuhr er fort, Azubi beim Rowohlt Verlag. Er brauche jetzt dringend einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Ohne Milch und ohne Zucker. Das betonte er eindringlich. Kaffee trinke er nämlich schwarz, sagte er, immer. Man habe ihm von höherer Stelle aus mitgeteilt, heute um 14 Uhr hier auf mich treffen zu sollen.
Nach einer kurzen Pause und einem beiläufigen Blick auf seine zitronengelbe Swatch meinte er, ich sei also wohl etwas zu spät.
Außerordentlich verärgert darüber, dass es Frau Thurner nicht möglich gewesen war, mir persönlich mitzuteilen, bei unserem vereinbarten Gespräch verhindert zu sein, ließ ich mich in den roten Lederfauteuil fallen, der dem des Praktikanten am nächsten stand. Dann dachte ich einen Moment lang nach. Vermutlich war die Tatsache, dass dem jungen Mitarbeiter irrtümlicherweise der falsche Zeitpunkt genannt worden war, in dem Umstand zu finden, dass Judith Thurner gerade unter unsagbarem Stress stand. Es war schließlich das Wochenende der Frankfurter Buchmesse. Das bedeutete eine Ausnahmesituation für alle Involvierten, sogar für all jene, dachte ich, die sich erst am Anfang ihrer Karriere oder am äußersten Rand des Literaturbetriebs befanden: wie dieser Jürgen Schneider hier vor mir. Man stand in diesen Tagen in dieser Stadt eben unter enormer Belastung. Es geht für viele um viel, dachte ich, wieder einmal geht es für alle um alles.
Wir saßen etwa anderthalb Meter voneinander entfernt. Doch Stress als alleinige Entschuldigung wollte ich nicht gelten lassen. Immerhin war ich extra aus Zell am See angereist. Ich freute mich auf die Spesen- beziehungsweise Fahrtkostenabrechnung und dachte an mein verbogenes Brillengestell. »Diese Absage wird ihr noch leidtun«, sagte ich und addierte im Kopf schon einmal das Kilometergeld mit den Preisen meines Optikers im Pinzgau. »Das wird eine Rechnung«, ergänzte ich.
Zudem missfiel es mir sehr, die vertraglichen Eckpunkte nun mit diesem minderjährigen Sprössling, einem der untersten Mitarbeiter im Verlag, vermutlich einem der letzten, allerletzten Assistenzhilfskräfte, aushandeln zu müssen. Dennoch war er jetzt mein direkter Ansprechpartner, das begriff ich sofort, meine unmittelbare Verbindung zu Judith Thurner – und damit zu Rowohlt.
»Kannst du mir«, fuhr ich fort und beugte mich dabei mit meinem Oberkörper langsam, sowohl elegant und geschmeidig als auch bestimmt und vehement, im Fauteuil nach vorne. Wie James Dean, dachte ich, wie Ralf Tanner in der einen Bar, »die Handynummer von Frau Thurner geben?«
»Das ist völlig ausgeschlossen«, entgegnete der Jüngling. Und er fragte mich, seit wann wir per Du seien.
Natürlich, dachte ich unverzüglich, da hatte er seinen Satz noch gar nicht zu Ende gesprochen, natürlich, das war eine unglückliche Formulierung meinerseits gewesen. Ich räusperte mich und korrigierte: »Können Sie mir ihre Handynummer geben?«
»Niemals«, war die Antwort.
»Ah«, machte ich nur. »Dann werden das Notwendige, das Vertragliche eben wir beide regeln. Inwieweit bist du«, sagte ich.
»Sie!«
Ich korrigierte mich sofort. »Sie. Also Sie. Inwieweit sind Sie bezüglich meines Falls informiert?«
Der Praktikant gähnte. Mitten auf seiner Stirn war ein rot angeschwollener Pickel. Er tat mir leid. Alle Jugendlichen konnten einem nur leidtun, sie waren ihren Trieben, ihren körperlichen Gelüsten ausgeliefert. Wann würde er wohl zum ersten Mal ein Mädchen ausführen, fragte ich mich, ein Mädchen aus seiner Klasse zum ersten Mal zu einem Blockbuster ins Kino begleiten, ein paar Jahre später dann zu Brecht oder Jelinek ins Theater? Er hatte sich dieses Praktikum mit Sicherheit anders vorgestellt, wahrscheinlich wurde er nicht einmal bezahlt. Bestimmt hatte man ihm beim Vorstellungsgespräch gesagt, er werde wichtige Erfahrungen fürs Leben sammeln, und die seien nun einmal wertvoller als alles Geld der Welt. Der wird sein Lehrgeld noch bezahlen, dachte ich, was für ein Naivling! Denn ich galt allgemeinhin als ein durchaus unangenehmer, mitunter sehr hartnäckiger Gesprächspartner. Es war nicht leicht, mit mir Verhandlungen zu führen. Um im Literaturbetrieb Fuß zu fassen, sagte ich mir, benötigte man eben ein dickes Fell.

Für Sebastian ist das nach einem unbequemen Schlaf zwar mühsam, doch erkennt er sich gleich im Spiegel der Zugtoilette wieder. Kevin fällt das schwerer. „Ich erwachte“, heißt es im ersten Satz, „weit von mir selbst entfernt, so weit von mir selbst entfernt, dass ich mich nicht erinnern konnte, wer ich war.“ (S. 7)
Und dann ist auch noch die Glühbirne in der Toilette seines Zuges defekt. Im flackernden Licht muss er sich im Spiegel betrachten: „Das bin ich also, dachte ich.“ (S. 7) Wenige Seiten später versichert er sich erneut seiner selbst, aber mit einem entscheidenden Vorbehalt: „Noch war ich nicht der, der ich schon bald sein würde. Das musste ich mir immer wieder sagen. Ich bin noch nicht der, sagte ich, der ich dann sein werde.“ (S. 13)
Und wer wird Kevin ‚dann‘ sein? Wenn es nach ihm ginge, ‚der‘, der Daniel Kehlmanns Platz im Literaturbetrieb einnehmen wird. Denn Kehlmanns Karriere ist in Kevins Sicht der Dinge, die unter anderem deshalb beeinträchtigt wird, weil er in der Zugtoilette auf seine Brille tritt und das linke Brillenglas verliert, am Ende: „Manche Experten sprachen bereits öffentlich von einer Krise in seinem Schaffen, vom Absturz, vom baldigen, endgültigen Niedergang.“ (S. 8) Kevin ist davon überzeugt, die Lücke füllen zu können, die unweigerlich nach Kehlmanns Niedergang entstehen würde. Und zwar mit seinem Roman Ich und Kehlmann, den er für „Weltliteratur“ hält.
Schon im Lehramtsstudium hat das angefangen, diese fixe Idee, Kehlmann zu ersetzen, in die er sich „immer mehr […] hineingesteigert und mich schließlich in sie verliebt [hatte], und zwar so sehr, bis sie zum Mittelpunkt meines alleinigen Interesses, zur Essenz meiner Existenz geworden war“ (S. 54).
Zurück in seinem Zugabteil stellt Kevin sich etwa vor, Daniel Kehlmann sitze im selben Zug: „Ich bin Daniel Kehlmann, dachte ich erregt, in bin es, ich bin Daniel Kehlmann, ich bin es wirklich.“ (S. 15) Um ‚wirklich‘ der andere zu werden, so ist Kevin überzeugt, braucht er seinen Roman. Ohne sein Buch wäre er nichts, wäre „wie tot, wie niemals geboren“ (S. 20). Dem Buch hat er alles geopfert, hat sich abgekapselt, zurückgezogen und eingesperrt, „um woanders zu sein, um woandershin zu gelangen“ (S. 55). Auch seinen Beruf als Lehrer hat er „aufgegeben zugunsten einer viel größeren Idee“ (S. 55).
Aber das Buch ist noch nicht abgeschlossen. Dem Manuskript fehlt ein Ende, ein zwölftes Kapitel. Deshalb reist Kevin zur Buchmesse nach Frankfurt am Main, wo er Ich und Kehlmann an den Rowohlt Verlag verkaufen und den Roman fertig schreiben will, um Daniel Kehlmann abzulösen und berühmter als dieser zu werden. Dass der Verlag nichts von ihm wissen will, weil Kevins „aufdringliches Verhalten in den letzten Wochen, eigentlich Monaten“ (S. 36) Judith Thurner, die er für seine „Ansprechpartnerin bei Rowohlt“ (S. 25) hält, „über alle Maße geärgert“ hat, stört ihn nicht. Er ist sich einerseits sicher, dass der Roman gut ist und weiß, dass er sich andererseits beeilen und das Buch schnell veröffentlichen muss. Es „durfte keinesfalls erst nach [Kehlmanns] endgültigen Dahinscheiden erscheinen und freilich nicht zu weit davor. Für eine kurze Zeit würden wir beide im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stehen. Und dann nur noch ich“ (S. 8f.). Diesen ‚Plan‘ teilt er mit Kehlmanns Sebastian Zöllner: „Mein Buch durfte nicht vor [Kaminskis] Tod und nicht zu lange danach herauskommen, für kurze Zeit würde er im Mittelpunkt des Interesses stehen. Man würde mich ins Fernsehen einladen, ich würde über ihn sprechen […].“(S. 36)
Aber in dieser Gegenüberstellung wird gleichzeitig auch der größte Unterschied zwischen den beiden Protagonisten klar. Während Sebastian nämlich Kaminski nur wegen seiner Berühmtheit, seinem Namen schätzt, aus dem er Kapital schlagen will, indem er ‚über‘ Kaminski schreibt und spricht, will oder muss Kevin sich durch seine intensive, obsessive Beschäftigung mit Kehlmann ‚durch‘ diesen oder ‚mit‘ diesem sprechen und schreiben, um Ruhm zu erlangen.
Für diese Lesart, dass Kevin also ‚durch‘ oder ‚mit‘ Kehlmann sprechen will und in seiner Obsession aufgeht, gibt es bereits in der eingangs erwähnten Szene im Zug einige Belege. So fragt einer von Kevins Mitreisenden nach der Zeit. Kevin versteht die Frage zwar, kann sie aber nicht beantworten, weil es ihm so vorkommt, als sei er „irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ (S. 16) eingesperrt: „Ich fühlte mich auf unheimliche Weise in Kehlmanns Geschichten verstrickt, die allesamt nichts anderes als Plagiate waren.“ (S. 16f.)
Ein anderer Mitreisender scheint von besonderer Bedeutung: eine „sehr dürre Gestalt mit hohlen Wangen und spitzem Kinn“ (S. 11), die feine Lederschuhe, ein geschecktes Wams und Pluderhosen trägt. Genau wie Tyll in Daniel Kehlmanns gleichnamigen Roman. „[F]ast wie erfunden” (ebenda.), scheint Kevin die Gestalt im Zugabteil zu sein. Dass es Kehlmanns Tyll sein könnte, darauf kommt er auch dann nicht, als er ihm in der Lobby seines Hotels begegnet, ohne ihn zu erkennen, obwohl zwischen dem Verlassen des Zugabteils und dem Wiedersehen nicht viel Zeit vergangen sein kann. Vielleicht ist Kevin aber nur abgelenkt. Er hat nämlich erwartet, Judith Thurner in der Hotellobby zu treffen und einen Vertrag mit Rowohlt über Ich und Kehlmann zu unterschreiben. Stattdessen hat seine ‚Ansprechpartnerin‘ ihren Verlagskollegen Jürgen geschickt, der Kevin nicht nur ihren zuvor zitieren Ärger über sein aufdringliches Verhalten mitteilen lässt, weshalb sie nicht gekommen sei, sondern auch, dass Rowohlt seinen Roman nicht veröffentlichen wolle. Das kann Kevin nicht akzeptieren und als Jürgen gehen will, hält Kevin den Verlagsmitarbeiter fest, drückt ihn „tief in den roten Lederfauteuil zurück“ (S. 37). Das bemerkt ein anderer Hotelgast, der Kevin schon zuvor wegen seiner Augen aufgefallen war – „blau, blendend, bedrohlich, zugleich scharf und beißend und giftig und gefährlich“ (S. 35) – und seiner bunten Schellenkappe, wie sie auch Kehlmanns Tyll trägt, gegen seinen Willen und zum Gefallen des Kaisers, um dem Bild zu entsprechen, das dieser sich von ihm macht.
Warum bemerkt Kevin nicht die Gemeinsamkeiten des Herren in der Lobby mit der Gestalt aus dem Zug und vor allem mit Kehlmanns Tyll? Eine mögliche Antwort gibt er selbst: „Es fehlte mir aber die Zeit, um mir darüber noch länger Gedanken zu machen“ (S. 39), denn er muss Jürgen das Manuskript überreichen. Als dieser es aber nicht annehmen will, steckt er es dem Flüchtenden in den Rucksack. Kevins Roman „ist nun endlich auf direktem Wege zu Rowohlt, dachte ich, was für ein ausgesprochen schöner, wahrhaft tröstender Gedanke“ (S. 41).
Doch etwas stört ihn. Er setzt sich in Jürgens Fauteuil, kratzt sich am Kinn und greift nach den Nüssen in der Schale auf dem Tisch vor ihm, „gerade so, als wäre ich jetzt selbst diese ausgemergelte unheimliche Gestalt“ (S. 42). Er putzt das intakte rechte Brillenglas, setzt die Brille wieder auf. Sieht weder Gemeinsamkeiten zwischen Zug und Lobby aber auch weiter keine Unterschiede: „Ich war jetzt einer der drei Herren im Fauteuil. Bei diesem Gedanken lachte ich laut auf. ‚Ich bin jetzt einer der drei Herren‘, murmelte ich und lachte noch immer“ (ebenda).
Könnte Kevin recht haben, ist er zur Figur geworden oder bildet er sich all das nur ein? Will er Kehlmann vielleicht gar nicht ersetzen, sondern nur wie Leo Richter – der Protagonist von Kehlmanns Geschichte Ein Beitrag zur Debatte, die mit acht anderen den Roman Ruhm bildet, den Kevin „so oft gelesen [hat] wie nichts anderes Gedrucktes in [seinem] Leben“ (S. 19) – eine Figur in einem von Kehlmanns Büchern werden?
Das soll hier nicht beantwortet werden. Dass Christoph Salcher in seinem Debüt aber äußerst gekonnt und unterhaltsam mit Realität und Fiktion, mit Traum und Wirklichkeit zu spielen vermag, ist die große Stärke dieses Buches. Mit seiner anspielungsreichen Sprache, seinen klugen intertextuellen Verweisen und seinem zuweilen sehr dunklen Humor hält dieser Roman aber natürlich wie jedes gute Buch nicht nur eine Lesart bereit. Es lohnt sich, in Ich und Kehlmann lesend herauszufinden, wer Kevin Fellner war, ist und am Ende sein wird.

Literaturhaus Wien, Dezember 2023



Wie ein großer Traum kommt Schwarmgeistern das Leben als Schriftsteller vor: Hat man es erst einmal geschafft, ein Manuskript zu vollenden und einen Verlag zu finden, der daraus ein Buch macht – dann erwarten einen Ruhm und Reichtum. Soweit der Traum. Die Wirklichkeit ist natürlich eine andere in einem Literaturbetrieb, der von starker Überproduktion gekennzeichnet ist und in dem um jedes Fitzelchen Aufmerksamkeit hart gerungen werden muss. Aber die Wirklichkeit kann man ja verdrängen. Christoph Salcher, ein 40jähriger Lehrer aus Graz, hat jetzt sein Debüt vorgelegt. In Anlehnung an „Ich und Kaminski“, einen frühen Roman von Daniel Kehlmann, heißt Salchers Buch „Ich und Kehlmann“. Furios, findet Alexander Solloch.
… und als wäre die menschenfeindliche Wüste im Wilden Westen die Halle 3 auf der Frankfurter Buchmesse: Hier wird, hier muss Epochales geschehen, eigens dafür hat Kevin Fellner die weite Reise von Zell am See nach Frankfurt auf sich genommen. Er wird der Weltöffentlichkeit seinen Roman „Ich und Kehlmann“ vorstellen und damit den schon wankenden Kehlmann endgültig vom Thron stoßen. Kevin, der Deutschlehrer aus der österreichischen Provinz, verachtet den Starautor – und sehnt sich zugleich nach Verschmelzung mit ihm:
Ich bin Daniel Kehlmann, dachte ich erregt, ich bin es, ich bin Daniel Kehlmann, ich bin es wirklich. Bloß wusste er gegenwärtig noch nichts von meiner aufsteigenden Gegenwart. Oder spürte auch er meine vibrierende Aura, unsichtbar, geisterhaft? Kaum zu fassen, trotzdem nicht zu leugnen? Fühlte er mein Kommen, meinen Aufstieg? Fühlte er mich? Daniel, dachte ich intensiv, fühlst du mich?
Und spürte er seinen Fall? Sein Verschwinden, seine Auslöschung, verursacht durch mein Erscheinen?
In seinem fiebrigen Wahn ist sich Kevin ganz sicher, bestens vorbereitet zu sein auf den großen Moment, in dem er Kehlmann auf der Buchmesse den literarischen Todesstoß versetzt. Immerhin hat er einen Vertrag mit Rowohlt – Kehlmanns Verlag also – quasi schon in der Tasche. Das glaubt er jedenfalls; auch eine beklemmende Begegnung im Foyer seines Frankfurter Hotels holt ihn nicht in die Realität zurück. Eigentlich wähnt er sich mit der einflussreichen Verlagsangestellten Judith Thurner verabredet, die aber schickt nur ihren Azubi Jürgen Schneider, der da mal etwas klarstellen soll:
Zitat:
Frau Thurner habe sich über mein aufdringliches Verhalten in den letzten Wochen, eigentlich Monaten, über alle Maßen geärgert. Man könne mich und meine Forderungen nicht mehr ernst nehmen, schon längst nicht mehr. Ich müsse mit den entsprechenden Konsequenzen, strafrechtlichen, betonte er, rechnen.
Ich wurde aus dem Knaben nicht schlau. Er drückte sich viel zu vage aus, so dass die ganze Angelegenheit in Wahrheit doch bloß ein einziges großes Missverständnis sein konnte. Bestimmt war das hier sein allererstes Vertragsgespräch, er war nervös. Jürgen Schneider war jetzt noch meine allerletzte Hürde.
An dieser Stelle wäre Christoph Salcher, dem Autor dieses Romans, einer von ganz wenigen Mängeln vorzuhalten: Junge Menschen heißen wohl in Österreich noch „Jürgen“, in Deutschland aber schon lange nicht mehr. Davon abgesehen (und davon abzusehen fällt leicht) ist dies ein aufregend-groteskes Literaturpsychodrama, und ein sehr vielschichtiges dazu. Natürlich sind die Momente, in denen sich Kevins Besessenheit zuspitzt, immer auch sehr lustig, etwa wenn er im Hotelfoyer beobachtet, wie plötzlich Daniel Kehlmann aus dem Aufzug steigt.
Zitat:
Zielgerichtet schritt er wie auf Wolken schwebend hinüber zum Rezeptionsbereich. Ich wagte es kaum, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Doch auf halbem Weg blieb der Schriftsteller plötzlich stehen. Er kratzte sich mit allen fünf Fingern der rechten Hand an der gewölbten Stirn. So also schaut es aus, wenn Kehlmann nachdenkt. Seine linke Hand spielte ungeschickt mit seinem Zimmerschlüssel, als wäre er auch bloß ein Mensch. Er seufzte bloß ein einziges Mal, dafür umso lauter. Wir kämpften beide gegen unsere Gespenster.
Aber lustig ist ja bald mal etwas. Dieser Roman ist jedoch mehr als ein Spaß. Hier haben wir eine sprachlich feine, in den Anspielungen treffsichere und unheimlich fesselnde Geschichte über die Spannungen im Inneren eines Menschen, der sich etwas vorgenommen hat. Literarisch charmant wäre es zwar, wenn wir nach diesem fulminanten Debüt niemals mehr etwas von Christoph Salcher hören würden – einmal alles aus sich herausgeschrieben und jetzt wieder und für immer unwillige Schulklassen unterrichten, das hätte Stil. Zugleich aber steht fest: In der Welt der Bücher können er und Kehlmann gut und gern koexistieren.

NDR Kultur, Alexander Solloch, Oktober 2023


Harry Rowohlt hat einmal auf die Frage, wer er denn gerne sein möchte, geantwortet: Peter Sloterdijk, aber nur für zweieinhalb Stunden. Denn der verfüge über das Talent, Dinge, die für jeden klar seien, so zu formulieren, dass sie niemand mehr verstehe. Harry Rowohlt wird in dieser Sendung noch einmal zu Wort kommen, allerdings in seiner eigenen Haut und nicht in jener eines anderen. Womit ich beim Thema dieser Sendung bin: in der Haut des Anderen, oder auch: im Körper des Anderen, buchstäblich und metaphorisch verstanden.
In der Literatur geht es ja immer um die Anverwandlung des Anderen. Wer schreibt, setzt Figuren in die Welt, in deren Haut es hineinzukriechen gilt. Man spricht als ein anderer. Und selbst wenn man sich für das Ich entscheidet, weiß man doch auch: Ich ist ein anderer. Weil man sich selbst erfinden muss, um sich sprachlich eine Gestalt zu geben. Und wer liest, macht im Grunde dasselbe: er oder sie nimmt die Figur an und begibt sich nicht nur mit, sondern auch in ihr durch die Wirklichkeit des Textes.
Luca Kieser erzählt in seinem Romandebüt Weil da war etwas im Wasser aus der Sicht eines Riesenkalmars, eines Tintenfisches also. Christoph Salcher, ebenfalls ein Debütant, hat mit Ich und Kehlmann einen satirischen Roman über die Verkehlmannung eines erfolglosen Schriftstellers verfasst. In Sibylle Grimberts Roman Der letzte seiner Art geht die Annäherung eines Naturforschers zu einer aussterbenden Spezies an die Grenze zwischen Mensch und Tier. Ernst Wilhelm Händler, der in seinen Romanen den Kapitalismus verkörperlicht hat sich diesmal auf das Feld der Kunst begeben und seinen neuen Roman Der absolute Feind betitelt. Monika Helfer erzählt in ihrem Roman Die Jungfrau von zwei Freundinnen, die versuchen, sich in die Haut der jeweils anderen einzufühlen. Und Xaver Bayer denkt in seinem Band Poesie über das Wesen des Alltäglichen nach.
Wenn man berühmt oder zumindest sehr bekannt ist, mag der Alltag durchsetzt sein mit Ereignissen und Begegnungen, die einem durchschnittlichen Zeitgenossen unbekannt sind. Zum Glück, denn Eifersucht, Missgunst und Neid potenzieren sich mit dem Grad der Bedeutung, die jemandem zugeschrieben wird. Aber auch Zudringlichkeit und entgrenztes Fantum gehören dazu, man denke an den Möchtegernkomiker Rupert Pumpkin und dessen Übergriffe auf den Starkomiker Jerry Langford alias Jerry Lewis in Martin Scorseses Film King of Comedy. Oder an den selbsternannten Kunstkritiker Sebastian Zöllner in Daniel Kehlmanns Roman Ich und Kaminski. Der drängt sich dem blinden Maler Kaminski als Biograf auf, nur um selbst in der Kunstwelt aufzusteigen.
Der in Graz lebende Autor Christoph Salcher hat in Anlehnung an dieses Buch sein Romandebüt Ich und Kehlmann betitelt. Irene Binal hat das Buch gelesen und ist zu Gast im Studio. Frau Binal, wo sind denn da die Parallelen?
Also vor allem in der Gestalt des Protagonisten. In „Ich und Kaminski“ hieß der Erzähler Sebastian Zöllner, ein selbsternannter Kunstkritiker, der mit einer Biographie des alten Malers Kaminski berühmt werden wollte und sich dafür fürchterlich penetrant an Kaminski herangemacht hat. Und hier haben wir einen Erzähler namens Kevin Fellner, der einen Roman mit dem Titel „Ich und Kehlmann“ geschrieben hat, den er für absolut sensationell und bahnbrechend hält und mit dem er Daniel Kehlmann überflügeln will. Das sind also beides Figuren, die sich selbst gnadenlos überschätzen und von Ruhm und Reichtum träumen, aber irgendwann auf dem Boden der Tatsachen landen müssen.
Ein Trittbrettfahrer also. Und wie alle von dieser Sorte ein mühsamer Zeitgenosse.
Oh ja, Kevin Fellner ist wirklich kein sehr liebenswerter Charakter. Er stammt aus Zell am See, arbeitet als Lehrer, wie übrigens auch der Autor Christoph Salcher, der ist Lehrer an einem Grazer Gymnasium, und Fellner hat sein letztes Geld zusammengekratzt, um mit seinem Manuskript zur Buchmesse nach Frankfurt zu fahren. Als erstes will er dort eine Lektorin vom Rowohlt-Verlag treffen, das ist ja tatsächlich Daniel Kehlmanns Verlag, dort will Fellner den Vertrag für sein Buch unterschreiben, und er malt sich aus, wie sie hingerissen ist von seinem Text und wie alle im Verlag sich überschlagen, um den Roman veröffentlichen zu können, wie die Rezensenten Lobeshymnen auf ihn singen und so weiter. Und als er dann in Frankfurt ankommt, wartet auf ihn nur ein Azubi des Verlags, den man geschickt hat, weil die Lektorin von Fellner schon längst extrem genervt ist, das Treffen endet recht desaströs, aber auch das kann Fellner nicht beirren. Er stellt fest, dass Daniel Kehlmann im selben Hotel wohnt wie er auch, er klaut sogar Kehlmanns Schlüssel von der Rezeptionstheke und schleicht heimlich in Kehlmanns Zimmer und durchstöbert es, und bei all dem überlegt er dauernd, wie es sein wird, wenn er erst mal berühmt ist, dass er Kehlmann quasi ablösen will, denn der habe seinen Zenit längst überschritten und gehe langsam unter, und wenn Kehlmann untergeht, dann stellt sich Fellner vor, dass er selbst aufsteigen wird und als Kehlmanns Erbe sozusagen gefeiert wird.
Was erfährt man denn über diesen Roman, mit dem Kevin Fellner das erreichen will? Was ist das für ein Werk? Oder vielleicht sollte man sagen: Machwerk?
Machwerk würde es wahrscheinlich besser treffen, jedenfalls nach den Reaktionen bei Rowohlt zu schließen, aber tatsächlich erfährt man wenig über Fellners Roman. Salcher hat darauf verzichtet, Passagen aus dem Text einzubauen, das war auch eine gute Entscheidung, wir können den Text also nur durch Fellners Augen wahrnehmen, und der hält ihn natürlich für das absolute Meisterwerk. Wobei das letzte Kapitel noch nicht geschrieben ist, das treibt Fellner die ganze Zeit um, weil er eben dieses letzte Kapitel noch schreiben muss und nicht recht weiß, wie er das angehen soll. Er will ja auf der Messe Daniel Kehlmann selbst treffen und ihm sein Manuskript überreichen, das fertige Manuskript, also er steht da schon unter gewissem Druck. Und da häufen sich dann natürlich die kuriosen Ereignisse, wenn Fellner etwa seinen Text ausdrucken will, aber an der Rezeption des Hotels erklärt man ihm, dass der Drucker nur für Angestellte da ist und Fellner ist ganz empört, wie sich die Leute erdreisten können, ihn so zu behandeln, er sei schließlich ein bedeutender Autor. Irgendwie ist er fast bemitleidenswert in dieser Selbstüberschätzung, und Salcher karikiert da recht gekonnt einen Charakter, der sich selbst für den Mittelpunkt der Welt hält und gar nicht begreift, dass er es eben nicht sind, der wirklich die Augen konsequent vor der Realität verschließt.
Wie lässt sich denn der Roman von Christoph Salcher einordnen? Ist es eine Satire? Die Bezeichnung Schlüsselromantrifft es ja eher nicht.
Also im Schlüsselroman werden ja reale Personen verschlüsselt beschrieben, unter anderen Namen, das ist hier nicht der Fall, Salcher arbeitet mit Kehlmanns echtem Namen, insofern ist es kein typischer Schlüsselroman. Satire beschreibt es besser, eine Satire auf das Ego, das oft überhöht wird, auf die Sucht nach Anerkennung und den Glauben an die eigene Großartigkeit. Ein bisschen vielleicht auch auf den Literaturbetrieb, wobei der gar nicht so im Mittelpunkt steht, es geht hauptsächlich um Fellners komplett verzerrte Wahrnehmung und auch um seine Unverfrorenheit, er ist so überzeugt von sich, dass er nichts dabei findet, etwa das Kreditkartenkonto seiner Freundin leer zu räumen, um das Hotel zu bezahlen. Man könnte das Buch auch als Groteske sehen, als Karikatur eines bestimmten Typus, unter dem Verlage und Autoren wohl durchaus leiden, also dieser Roman passt, wenn man will, in viele Schubladen.
Die Sie gerne geöffnet haben?
Also manche Szenen sind in ihrer Absurdität sehr gelungen, wenn Fellner sich etwa als den einzigen echten Kehlmann-Experten bezeichnet und meint, noch nicht mal Kehlmann selbst sei so ein Kehlmann Experte, oder wenn er plötzlich tatsächlich für Kehlmann gehalten wird, also da sind sehr witzige Passagen dabei. Und natürlich ist dieses Spiel mit Fiktion und Realität reizvoll, weil man nie so recht weiß, was jetzt fiktiv ist und was nicht. Auf der anderen Seite erscheint mir das Ganze stellenweise ein wenig ziellos, manchmal zerfranst es so ein bisschen und man weiß nicht so recht, worauf der Text hinaus will. Aber das soll Salchers Verdient jetzt nicht groß schmälern, denn insgesamt ist es ein sehr spritziges Buch, ein wendiges Buch mit vielen guten Ideen. Und natürlich ist es für Fans von Daniel Kehlmann eine wahre Fundgrube, es gibt viele Bezüge auf Kehlmanns Romane und auf seine Figuren, viele Zitate aus den Büchern und so weiter. Und auch wenn Fellner nicht immer freundlich über Kehlmann spricht, ist das Ganze doch letztlich eine Hommage an Kehlmann und sein Werk, so sieht es Christoph Salcher auch selbst, und als solche ist es trotz gelegentlicher kleiner Stolperer doch ein recht gelungener Roman.

ORF, Ö1, ex libris, Oktober 2023

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