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€ 24.00
ISBN 978-3-903460-15-7
230 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag, Leseband
Die Enkelin
Die Enkelin fährt in ihrem Urlaub in das österreichische Dorf, in dem ihr dementer serbischer Großvater lebt. Was ein umsorgender, beschaulicher Familienbesuch sein könnte, entpuppt sich schnell als verstörende Reise in die Vergangenheit. Und die Gegenwart zeigt, dass auch die Enkelin dunkle Geheimnisse mit sich trägt.
Die Enkelin und ihre Schwester treffen bei ihrem von einer Batterie ausländischer Pfl egekräfte versorgten Großvater ein. Die Schwester fi ndet den alten Mann wie immer unausstehlich, ihre Erinnerungen an ihn sind von seiner Kaltherzigkeit der gesamten Familie gegenüber geprägt. Die Enkelin ist duldsamer; sie vermag den Tagen beim Großvater mehr abzugewinnen, was aber in direktem Zusammenhang mit ihrer Affäre mit dem verheirateten Nachbarn steht.
Im neuen Roman von Lisa Mundt geht es um viel mehr als einen Großvaterbesuch: Es geht um den unverarbeiteten Verlust der Mutter, um die psychosomatischen Schmerzen, die sie seither begleiten. Es geht um ihren serbischen Hintergrund und die damit einhergehenden Migrationserfahrungen der vorangegangenen Generationen. Rassistische Strukturen im Dorf sowie in ihrer Lebensgeschichte, die in Rückblenden nachgezeichnet wird, erschweren die ohnehin schon belastete Beziehung zum Großvater. Außerdem muss die Enkelin feststellen, dass sie sich moralisch und persönlich nicht ohne Weiteres von seinen bedrohlichen Seiten abgrenzen kann.
„Die Enkelin“ ist ein Roman ü ber transgenerationales Trauma, Care-Arbeit, gesellschaftliche Ungleichheiten aufgrund von Migration und Klasse sowie über weibliches (Körper-)Erleben im Lichte unverarbeiteter Verluste und Strapazen. Die Enkelin muss um Defi nition und Integration ihrer eigenen Erfahrungen und Anteile ringen, ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess.
Im März hat es begonnen. Mit einem Stich im linken Fuß.
Ich saß im Büro, meine Kollegin Laura am Schreibtisch gegenüber. Unsere Finger tippten, ab und zu läutete ein Telefon. Ich gab Daten in eine Excel-Tabelle ein, sie betrieb Recherche für das Projekt. Laura trug eine neue Halskette mit einem tropfenförmigen Perlenanhänger. Meine Mutter war seit einem halben Jahr tot.
Es fühlte sich an, als wäre ich auf einen Nagel gestiegen. Ich stieß mich mit einem Schrei vom Schreibtisch weg, mein Stuhl rollte bis an die Wand zurück, ich riss an meinem Schuh, zog den Socken aus und drehte meinen Fuß herum, holte die Sohle so nahe an mein Gesicht heran wie möglich. Der Schmerz war heiß und scharf, die Haut aber unberührt. Keine Wunde, keine Rötung, nicht einmal ein Ausschlag. Ich stellte den Fuß wieder auf dem Boden ab, atmete flach und schnell. Der Schmerz war verschwunden. Ich hob den Blick und Laura stand in der Mitte des Raums. Ihre Augenbrauen glätteten sich wieder und sie verschränkte die Arme.
»Brauchst du ein Glas Wasser?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf, zog den Socken und Schuh wieder an. Dann rollte ich langsam zu meinem Schreibtisch zurück. Laura setzte sich auch auf ihren Platz und warf mir einen kurzen Blick zu, den ich nur spürte und nicht erwiderte. Ihr Telefon läutete und sie hob ab. Ihre Stimme war ruhig und freundlich.
Ich sitze im Wohnzimmer und frühstücke, Lazar liegt noch im Bett. Er hat seinen Kaffee nicht angerührt. Er tut so, als würde er schlafen. Ich höre den Wagen vom mobilen Dienst. Andrea stellt den Motor ab, nimmt ihre Tasche vom Rücksitz und schlägt die Autotür zu. Ich schneide einen Apfel in mein Müsli, rühre um. Andrea kommt ins Zimmer und lässt ihre Tasche auf den Stuhl neben mir fallen.
»Herr Lazar, ich bin da«, sagt sie und kichert. »Das reimt sich.«
Ich lächle und nehme einen Schluck Wasser. Andreas Haare sind zu einem lockeren Zopf gebunden, ihr Gesicht sieht frisch und ausgeschlafen aus. Ich verziehe den Mund, ohne es zu wollen. »Wie geht es dir?«, frage ich. Sie lächelt und beginnt den Tisch abzuwischen. Ihre großen Brüste wackeln in ihrem T-Shirt, ich versuche den Blick abzuwenden.
»Gut, gut, danke«, sagt sie, »bald fahre ich nach Hause, meinen Sohn besuchen.« Ich nicke.
»Bukarest?«, frage ich. Sie nickt und hält die Krümel vom Küchentisch in ihrer Handfläche.
»Genau«, sagt sie, »ein bisschen Spaß.« Sie lacht, ich lächle.
Sie verschwindet in der Küche. Ich esse mein Müsli. Sie kommt mit einer Tasse Kaffee zurück und setzt sich neben mich auf die Eckbank. Ich sehe sie von der Seite an, sie betrachtet meine Schüssel.
»So gesund«, sagt sie.
»Ja«, sage ich.
Sie trinkt ihren Kaffee. »Brav«, sagt sie. »Wie war die Nacht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Er war sehr früh wach«, sage ich, »er hat mich aufgeweckt.« Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Und das in deinem Urlaub«, sagt sie.
Ich nicke und esse weiter. »Es macht nichts«, sage ich. Sie legt eine weiche Hand auf meine Schulter und streichelt sie. Ich spüre die Hitze in meinem Gesicht und blinzle, stecke mir schnell den Löffel in den Mund. »Du tust etwas Gutes«, sagt sie.
Ich bitte sie kurz aufzustehen, damit ich die Sitzbank verlassen und meine Schüssel in die Küche bringen kann. Andrea steht auf und öffnet ein Fenster. Ich gehe in die Küche und greife auf meine Schulter. Sie brennt. Ich atme und starre dabei auf die Küchenuhr. Ich ärgere mich, dass sie keinen Sekundenzeiger hat, dem ich folgen könnte. Der Schmerz sitzt im Knochen, nein, im Gelenk, nein, nur auf der Haut. Ich atme weiter und unterdrücke den Impuls, ins Badezimmer zu laufen und nachzusehen.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Die Tür zu Lazars Zimmer ist offen, auch dort hat Andrea das Fenster aufgerissen, der Sommer kriecht in den Raum. Ich beobachte sie. Andrea hilft ihm dabei, aufzustehen, obwohl er sie mit beiden Händen abwehrt. Sie hat seine Knie zwischen ihren Beinen eingeklemmt und steht über ihm an der Bettkante. Sie fängt seine wedelnden Hände ein und presst sie an ihre Hüfte. Dann greift sie auf seine Oberarme und zieht leicht an. Lazars Körper macht mit, gegen seinen Willen.
»Hauruck«, sagt Andrea und lacht. Lazar steht vor ihr und starrt sie an. Er trägt eine Pyjamahose und ein Pyjamahemd. Der Stoff steht steif von seinem Körper ab. Andrea beugt sich zu seiner Hüfte hinunter und zieht an seiner Hose. Sein Mund bleibt offen stehen. Er zittert. Sein Blick wandert zur Tür und er sieht mich, die Augen geweitet. Ich halte seinen Blick. Seine Beine sind dünn und haarlos. Andrea hält eine frische Unterhose in der Hand. Er führt eine Hand an seine Wange und schaut weg. Ich drehe mich um und hole die Zeitung, die Andrea aus dem Briefkasten geholt und auf der Kommode im Vorzimmer abgelegt hat. Der Gürtel hat sich ein bisschen aufgerollt, als würde er aufatmen.
An einem Sonntagmorgen im April habe ich beschlossen, den Schuppen aufzuräumen. Ich hatte die Nacht mit Albträumen und Zahnschmerzen verbracht, die in der Früh verschwunden waren. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand aus mir herausgerissen und weggeschmissen hätte; nur noch ein Körper, der Schmerzen wie Lichtschalter betätigte. Ich weinte und schluchzte, während ich verrostetes Werkzeug aussortierte und verschimmelte Tischtücher mit gehäkelten Spitzen von meiner Großmutter wegschmiss. Als mir eine Schachtel mit Nägeln auf die Zehen fiel, schrie ich laut auf, ließ mich auf den Boden fallen, trat nach der Schachtel und verfehlte sie. Der Tritt ins Leere ließ mich einen Moment lang vor Wut erstarren, dann schlug ich ungeschickt mit der flachen Hand auf den Boden und riss mir die Haut an einem losen Nagel auf. Da flog die Tür zum Geräteschuppen auf und Lazar stand mit einem Strohhut vor mir.
»Grüß Gott«, sagte er. Ich starrte ihn an und hielt meine blutende Hand hoch. Dann begann ich zu lachen. Ich vergrub mein Gesicht in meiner heilen Hand und seufzte, sah dann wieder Lazar an, lachte wieder. Er griff sich an den Hut, hob ihn kurz vom Kopf, setzte ihn wieder auf. Drehte sich einmal im Kreis und verbeugte sich vor mir. Ich scheuchte ihn sanft ins Haus zurück, und er verbrachte den Nachmittag summend und lesend auf der Eckbank.
„Heat“ – man denke an den gleichnamigen Blockbuster von 1995 – ist ein Slang-Ausdruck, der sich auf Deutsch am ehesten mit dem sperrigen Terminus „Fahndungsdruck“ übersetzen ließe. Hitze ist auch in Lisa Mundts Roman eines der zentralsten Bilder und die Ich-Erzählerin spielt dabei beide Rollen: Sie ist zugleich Delinquentin und Ermittlerin, die sich selbst auf die Schliche kommen will. Getrieben und überwältigt wird sie dabei von einer unerklärlichen Hitze, die in ihrem Inneren aufsteigt, sich mitunter zum Feuer auswächst oder in subtiler Zwiesprache der Körper hin und her fließt, zwischen ihr – der Enkelin – und dem serbischstämmigen Großvater Lazar.
Ein mehrwöchiger Besuch bei dem dementen und gebrechlichen Mann bildet den Rahmen des Buches. Bis auf eine längere Passage in der Mitte wechselt die Erzählung dabei konsequent Absatz für Absatz hin und her zwischen Jetztzeit und Rückblenden ins bisherige Leben der Enkelin. Die Mutter ist vor nicht allzu langer Zeit verstorben, so erfahren wir auf der zweiten Seite, und auch sie verbrachte zuletzt viel Zeit mit Lazar, zog zurück ins Dorf ihrer Kindheit und niemand wusste so recht warum. Auch jetzt fragt die Schwester verständnislos am Telefon, was die Erzählerin denn da zu suchen habe, beim alten Mann, beim „Arschloch“, wie sie den Großvater nach der Beerdigung der Mutter nennt.
Langsam legt der Roman seine Fäden aus, an denen er die Leser:innen stetig und bestimmt in sich hineinzieht. „Ich hatte etwas getan, das nicht wiedergutzumachen war“, so die Ich-Erzählerin auf Seite 22. Immer plastischer wird das Bild einer Frau, die – so ahnt man – einem innerem Abgrund auf die Spur zu kommen versucht und deshalb den Großvater aufsucht, so wie einst ihre Mutter. Die geballten Fäuste des Großvaters, seine drohenden Gesten und Worte im Alltag zwischen Garten, Fernseher und Pflegerinnenwechsel sind kleine Ausbrüche, Überbleibsel einer erahnten Bösartigkeit, die mit dem versagenden Körper langsam zerfällt. Der Gewaltausbruch der Enkelin selbst ist so unerwartet wie schlüssig und ein Höhepunkt des Buches. Man ist an gewisse ikonische Bilder der Anti-Heimatliteratur erinnert, wenn es wieder einmal die Frau ist, die das Schlachtfeld nach der Attacke sauber zu machen hat. Nur ist es diesmal die Frau selbst, die gewütet hat und sich nun Sorgen macht, ob das wertvolle Holz der Kommode, gegen die der Kopf des Opfers gedonnert ist, auch das aggressive Putzmittel verträgt.
Die Hitze kann bei flüchtiger Lektüre schlicht als naheliegendes Bild für die aufwallende Gewaltbereitschaft gelesen werden, doch sie ist mehr als blinder Zorn. Unser Gesicht wird rot und der Schweiß steht auf der Stirn, wenn wir uns peinlich berührt fühlen. Scham ist auch in der Welt der Erzählerin stets präsent. Und eine Ausweglosigkeit, ein wiederkehrendes Gefühl des In-die-Enge-getrieben-Seins. All das klingt durch, ohne etwas zu erklären – weder die Entstehung dieser familiären Seelenkrankheit noch die Möglichkeiten ihrer Heilung – und schafft so den Raum, die beteiligten psychischen Kräfte geradezu nackt zu schildern, mit teils physischer Wucht.
Überhaupt ist das ganze Buch eine Palette der Somatisierungen. Unerklärliche Schmerzen verfolgen die Enkelin. Immer wieder wendet ihr Körper sich gegen sie und scheint ihr nicht mehr zu gehorchen. Die Bedrängnis, die sie erlebt, greift über auf die Erzählsprache. In den Metaphern wird die Realität zudringlich, die Umwelt kommt zu nahe, Dinge werden auf unheimliche Weise durchlässig, Gerüche spielen eine dominante Rolle.
Nimmt der innere Druck der Erzählerin ab und wird erträglicher, so kühlt auch die Sprache herunter, wird lakonischer, begibt sich an die Oberfläche der Dinge und zeichnet detaillierte Szenenbilder. Es entsteht – gewissermaßen als Nebenprodukt dieses filmischen Stils – mitunter sprachlicher Überschuss, ein Über-Beschreiben, das zumindest der Rezensent sich bisweilen schlanker gewünscht hätte. Ein Eindruck, der sich aber bald im Sog der Geschichte verflüchtigt und im lebendigen Portrait einer Familie, die von Seite zu Seite plastischer wird.
Klaus, der Partner der Erzählerin, ist zwar zentrales Objekt für das Handeln der Enkelin, bleibt jedoch selbst ein wenig pappfigurenhaft, wie ein Statist. Das wirkt sich auf eine Passage im ersten Drittel des Buches aus, doch dafür entschädigen sämtliche anderen Teile des Romans. „Klaus fand die richtigen Worte, nämlich kein einziges“ sagt die Enkelin, nachdem sie zusammengebrochen ist und sich ihrem Freund erstmals anvertraut hat. So wie Klaus verzichtet auch die Erzählung auf Rationalisierung. Indem von einer bedrohlichen Dunkelheit erzählt wird, einer unheil- und geheimnisvollen Gemengelage, die man aufgeklärt und gelüftet sehen möchte, wird Spannung erzeugt.
Das Geheimnis wird aber letztlich nicht aufgedeckt und gerade dadurch enthüllt der Roman die tiefer liegende Wahrheit seines Gegenstandes: Dass an Gewalt eben jeder Erklärungsversuch abprallt. Dass sie eine Erfahrung der Körper ist, ein körperlicher und gesellschaftlicher Bruch, der sich rational nicht fassen lässt. Dass Gewalt also jener Sphäre angehört, die hinter den beiden Grenzen des Alltäglichen anfängt – der dunklen wie der hellen, jener zum Grauen und jener zur Ekstase – und die genau jene Sphäre ist, die die Literatur ergründen soll.
Literaturhaus Wien Dezember 2023