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€ 25.00
ISBN 978-3-903460-26-3
270 Seiten
Hardcover mit SU, Leseband
Als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich.
NOBLE LÜGEN
Kampagnenmanager Frank Fischbach hat alles erreicht, was er wollte: Macht, einen ihm ergebenen Kanzler, eine erfolgreiche Freundin, ein rasant expandierendes Unternehmen. Doch Fischbach will mehr – er sucht die perfekte Wahlkampfformel. Ein ungeschminktes Sittenbild aus den Abgründen von Forschung und Politik.
Der machthungrige Kanzlermacher Frank Fischbach liebt die Manipulation und das
Spiel mit den Gefühlen und Hoffnungen von Politikern und der Bevölkerung. Als
er für „seinen“ Kanzler Bao Strauss zum dritten Mal die Wahl gewinnt, wird ihm
der Erfolg schon fast selbst langweilig. Er will sein Genie weitergeben und plant ein Ausbildungszentrum für Leistungsträger, eine Schule der Gewinner: „Young Titans“.
Fischbach lernt die Zivilgesellschaftsikone und erfolgreiche Öko-Unternehmerin
Sandra Kern kennen, ihr Geschäftsmodell ist Weltrettung; die zwei in ihrem Businessverständnis grundverschiedenen Workaholics beginnen eine Beziehung.
Als Noble Lüge bezeichnete Platon einen in der politischen Rede notwendigen, aber falschen Mythos, um den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Sowohl Fischbach als auch Kern sind Meister der noblen Lüge. Ein guter Verkäufer muss immer abschließen, Frank lernt von Sandra Kern, dass zeitgemäßes Verkaufen auf Sinnhaftigkeit, Moral und Ethik setzen muss.
Zuhause ließ Frank die Jalousien in allen fünf Zimmern herunter, zog zusätzlich die Vorhänge zu, schaltete das Internet aus und zwei seiner drei Smartphones auf Flugmodus. Er setzte sich eine Stirnlampe auf und schaltete sie ein und aus. Dunkelheit, ein Bleistift und ein Block Papier, mehr brauchte er nicht. Nach einigem Nachdenken schaltete er die Stirnlampe wieder ein, ging in die Küche und goss in seiner Teekanne weißen Tee auf. Wenn Dunkelheit allein nichts nützte, half er sich mit seinem Lieblingsgetränk weiter. Musste er liefern, trank Frank Imperial Grade Tea Guan Yin, den er für den ersten Aufguss bei 90°C exakt zwanzig Sekunden lang ziehen ließ. Genau die richtige Zeitspanne, um Überdruck loszuwerden, aber auch keine Zeit zu vergeuden. Nur in seinem Natsume-Hada-Teekessel schwebten die Teeblätter frei wie seine Gedanken.
Seine Reise ins Ich begann Frank mit einer schonungslosen Bestandsaufnahme. Bei Alpha Growth arbeiteten nur Alphas. Leistungsträger, die die 40-Stunden-Woche als Rückschritt betrachteten und für das Recht auf Überstunden kämpften. Seine gewinnbeteiligten Angestellten sahen sich wie er als Übermenschen. Als Arbeitgeber verpflichtete er nur Gewinner. Jener Menschenschlag, der Müßiggang als Teil der menschlichen Natur verklärte, hatte bei ihm nichts verloren. Seine frisch ernannten Geschäftsführer nahmen nie länger als vier Tage Urlaub und hatten sich erst dadurch für eine Führungsposition empfohlen. Frank dachte und handelte amerikanisch. Wer zu Alpha Growth gehörte, trat einer Familie bei. Jeder Bewerber durchlief einen aufwendigen Bewerbungsprozess und bislang hatte Frank sich nie getäuscht. Könnte sein Rekrutierungsgeschick nicht die Grundlage eines neuen Geschäftsfelds sein? Auf diese Frage gab es nur eine Antwort: unbedingt!
Wie aber müsste ein Ausbildungszentrum für Leistungsträger beschaffen sein, um Versager von vornherein auszuschließen? Lehrplanstrukturen von Schulen, Akademien, Kaderschmieden, Weiterbildungsorganisationen und geistlichen Orden faszinierten Frank. Fernöstliche Kampfklöster, Kongregationen und das Militär hatten geschichtlich betrachtet zweifelsfrei die effizientesten Ausbildungstraditionen begründet. Und genau diese Traditionen wollte er für seine Schule anzapfen. Frank wollte das Beste aus allen Erdteilen und Traditionen zusammendenken und eine Schule der Gewinner gründen.
Frank ordnete seinen Gedankenstrom. Jeder Orden war von einer Leitidee getrieben. Die Franziskaner wählten freiwillige Armut, die Dominikaner sahen sich als Hüter der reinen Lehre, die Jesuiten verpflichteten sich zu besonderem Gehorsam gegenüber dem Papst. Die fernöstlichen Kung-Fu-Schulen wiederum unterteilten ihren Lehrplan in 36 Kammern. Philosophische Schulen strebten nach Ruhm, das waren die Platoniker, nach Geld, das waren die Sophisten, nach Triebbefriedigung, das waren die Epikureer, oder nach Gelassenheit, das waren die Stoiker. So unterschiedlich die Ziele auch waren, alle Sekten, Orden, Vereine, Bruderschaften, Rockergruppen und Unternehmen befolgten bestimmte Regeln, schlussfolgerte Frank.
Um der erfolgreichste Menschenfischer seit Jesus zu werden, benötigte er strenge Selektion. Das Denken in Abschlüssen, Gewinnmargen und Provisionen musste verinnerlicht werden. Liebe zum Verkauf war eine Gnade. Ein guter Verkäufer musste immer abschließen. Verkaufen war nichts weniger als ein Akt der Liebe, der sich in Gewinn und Provisionen materialisierte. Für Neulinge schickte es sich, bescheiden zu leben. Erst durch Mühsal, unbezahlte Überstunden, Schlafentzug und Nachtschichten formte sich Siegeswille. Ebenso notwendig für den Erfolg war es, Schweigen zu üben. Wer schwieg, zeigte Selbstbeherrschung und konnte die Zeit nützen, von ihm zu lernen. Frank selber sprach, fragte und antwortete nur im Bestreben abzuschließen. Selbst die Frage nach dem Wetter diente zur Anbahnung eines Verkaufs. Jedes Wort, das nicht dem Abschluss diente, war überflüssig. Gehorsamkeit war eine weitere Grundvoraussetzung. Wer sich nicht seiner Autorität unterwarf, war unbrauchbar. Kein Schüler durfte ihm übertragene Arbeit ablehnen. Wer bei ihm lernen wollte, durfte keine Produkte verkaufen, die er verstand oder für die er sich interessierte. Nur ein Verkäufer, der seinen Willen verleugnete, führte das aus, was ihm vorgeschrieben wurde und nicht, was ihm richtig erschien. Verkaufen war – wie Regieren – kein demokratischer Akt.
Frank war zufrieden mit seinen ersten Überlegungen und brühte frischen Tee auf. Um seine Gedanken zu schärfen, kochte er Reis-Congee, das vier Stunden köchelte. Reisbrei und weißer Tee waren sein Superfood. Seine Teeleidenschaft verdankte er seiner Mutter. Als er ein Kind war, hatte sie Tee importiert und ihn öfter zu Geschäftsreisen nach Tokio mitgenommen. In Japan hatte er seiner ersten klassischen Teezeremonie beigewohnt. Ein Teemeister war auf seinen Knien herumgerutscht und hatte das Getränk ohne eine unnötige Bewegung zubereitet. Solche Präzision schwebte Frank auch für seine Schule vor. Er genoss seinen Tee. Schön langsam flogen ihm die Gedanken nach Belieben zu, kein Panoramablick störte seine Konzentration. Frank trank einen letzten Schluck und ging zurück ins Arbeitszimmer.
Mit harten Bandagen
Wie gewinnt man Wahlen? Ein einst erfolgreicher Manipulator weiß darauf plötzlich nicht mehr die Antwort und stürzt in die Sinnkrise.
Für Frank Fischbach, Wahlkampfmanager moderner Schule, ist die Lüge, für die es ja auch einer gewissen Kreativität bedarf, ein antiquiertes politisches Instrument: Je substanzloser und weniger konkret die Botschaften, desto größer der Wahlerfolg. In Wirklichkeit werden Wahlen nämlich vor und hinter dem Display gewonnen: »Jede Gefühlsregung der Wähler aufzuzeichnen und nichts Zufällen oder Überzeugungen zu überlassen, war der einzige Weg. Frank vertraute ausschließlich hohen Rechnerkapazitäten. Der direkte Kontakt mittels automatisierter Software, die jeden Wähler mit Vornamen ansprach, und Selfie-Stunden nach jedem Wahlkampfauftritt waren entscheidend.«
Mit dieser Methode hat Fischbach Kanzler Bao Strauss in Österreich zum unantastbaren Seriensieger gemacht – am Romananfang gerade zum dritten Mal. Auf den rauschenden Wahlabend folgt aber die Ernüchterung: Es stellt sich heraus, dass die heiligen Zahlen, auf die man seit Jahren baut, von Anfang an ein Mitarbeiter nur frisiert hat – und trotzdem eilt Strauss’ Sammlungsbewegung »Omnia« von einem Sieg zum nächsten.
Den gewieften Manipulator Fischbach stürzt das in eine Sinnkrise und er sich in eine Habilitation, wie und warum man Wahlen heute wirklich gewinnt. Dabei gerät er zwischen die Fronten zweier jahrzehntelang verfeindeter Akademiker. Statt die Antwort auf seine Forschungsfrage zu finden, kommt Fischbach daher viel schneller zur Einsicht: Im Wissenschaftsbetrieb täuschen und kämpfen die Menschen nicht viel anders und somit mit genauso harten Bandagen wie in der Politik. Der Weg zur Wahrheit führt ihn aber woanders lang.
Politromane leiden oft darunter, bloß stilistisch aufgehübschte Schauplätze von allgemein bekannten wie durchgesetzten Beobachtungen aus dritter Hand zu sein. Doch Autor Christian Moser-Sollmann kennt das Milieu, seit vielen Jahren arbeitet er selbst im Betrieb. Als Literat gelingt ihm hier eine anregende Meditation über moderne Machtspiele – verpackt in eine Mischung aus Polit-Satire, Entwicklungsroman und campus novel, bei der nebenbei auch so hübsch-böse Sätze wie »Die Liebe zum Verkauf war eine Gnade« abfallen.
Buchkultur, Juni 2024