€ 24.00

ISBN 978-3-903460-34-8
ca. 200 Seiten
gebunden, mit Leseband
Erscheint September 2024

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Vanessa Wieser

BRANNTWEINER, BLUE BOX UND BERMUDA DREIECK Unterwegs im Wien der 80er und 90er

Ein in wehmütigen Erinnerungen schwelgender Band, der den Jüngeren vermittelt, wie das damals so war, als man noch kettenrauchend mit 100 Schilling durch die Nacht kam, und den Älteren eine Freude der gemeinsamen Erinnerung ermöglicht.

Wien in den 80er und 90er Jahren. Wer damals nach Wien zum Studieren oder
Arbeiten kam oder ohnehin in der Stadt geboren ward, kann ein Lied erzählen … von einer grauen Stadt voller Hundstrümmerl, als man noch in Schilling bezahlte und erstmals coole Lokale aus dem Asphalt wuchsen.
Dieser humorvolle und historisch-persönliche Sammelband soll vielfältige Eindrücke des damaligen Nachtlebens vermitteln. Als die heute Über-Fünfzigjährigen jung und hungrig (durstig) waren nach Nachtleben, Gleichaltrigen und einer guten Zeit. Welche Lokale waren angesagt, wer hing dort ab, wo konnte man um 4 Uhr früh noch nachglühen, wie war denn so allgemein die Stimmung?

Lokalmatadore von damals werden über ihre persönlichen Kultlokale wie das
U4, Europa, Blue Box, Nachtasyl, Chelsea, Pandoras Box … berichten, aber auch über grindige Branntweiner und abgeranzte Gasthäuser – wo man im letzten Jahrtausend halt so die Nacht verbrachte.

Texte und Fotos von Ela Angerer, Robert Buchschwenter, Christian Fuchs, Max Freudenschuss, Katja Gasser, Walter Gröbchen, Amina Handke, Christopher Just, Rainer Krispel, Christina Nemec, Hans Platzgumer, Christian Schachinger, Götz Schrage, Christian Sollmann-Moser, Gerald Travnicek, Gerald Votava, Peter Zimmermann u. a.
Und einem ausführlichen Interview mit dem Szene-Zeitzeugen Herbert Molin, Erfinder und Inhaber der Kultlokale Blue Box und RHIZ.

(Aus dem Text „1987. Die graue Zeitlupenstadt“ von Hans Platzgumer):

Alles liegt wild herum irgendwo in meinem Wien des Jahres 1987. Alles damals war ein Rausch, in mir und um mich herum. Alles war analog, ausschließlich, war in eine Dreidimensionalität hineingestellt, hatte einen Geruch, Gestank, Geschmack, ich konnte es angreifen, davor davonlaufen, mich davor verstecken oder es in meine Hosentasche oder meinen Mund stecken – das ist wohl der bedeutendste Unterschied zur Jetztzeit, in der die Dinge zu weiten Teilen abstrahiert, in die Ferne gerückt sind. 1987 stand hinter jedem Tag, den ich erlebte, die Vermutung, er könnte der letzte sein. Nie aber war er es. Es kam immer noch einer und noch einer. Bis heute, 37 Jahre später.
Im Frühjahr 1987 hatte ich die Matura und damit die letzte Hürde hinter mich gebracht, die mich in meiner Geburtsstadt Innsbruck hielt. 17 Jahre lang hatte ich darauf gewartet, aus der Enge meiner Heimat auszubrechen. Nun war es so weit. Am Tag nach der Reifeprüfung setzten ein etwas älterer Freund und ich uns auf mein Moped, eine KTM Quattro, packten so viel Gepäck darauf, wie Platz fand, und machten uns auf den Weg. Drei Tage würden wir für die 500 Kilometer letztendlich brauchen. Nahe
Rosenheim platzte bereits der erste Reifen. Gegen Ende der Reise verirrten wir uns im Wienerwald auf eine Autobahn, aber davon ließen wir uns nicht abbringen. Mit unseren höchstens 40 km/h blieben wir stur darauf, bis wir die Stadtgrenze erreichten.
Diese »Wien ist anders«-Schilder auf der A1-Einfahrt in die Stadt gab es schon damals. Ich weiß noch, wie mir das gefiel. Das Anderssein hatte für mich oberste Priorität. Ich wollte hinaus aus dem konservativ-reaktionären Mief, in dem mich meine Heimat hatte ersticken wollen. Nun war es gelungen, die Schilder bewiesen es. Alles würde ich von nun an anders machen, als es bislang gewesen war, egal ob besser oder schlechter, Hauptsache anders. Wir mussten nur mehr ein paar, vielleicht zehn, fünfzehn Kilometer geradeaus weiterfahren Richtung Osten. Der Wien, diesem Rinnsal, entlang. Und dann tauchte der Karlsplatz vor uns auf.
Bis zum Karlsplatz schafften wir es, keinen Meter weiter. Auch die Wiener Giftlerszene hatte es dorthin und nicht weiter geschafft. Um genau zu sein, schafften wir es nur bis zum Würstelstand am Eck zur Operngasse. Dort stellten wir das Moped ab, und dort blieb es dann auch stehen, bis es von irgendjemandem entfernt wurde, denn es sprang nicht mehr an und ich gab es auf. Unsere Hintern schmerzten und wir waren froh, uns nicht länger darauf setzen zu müssen. Den Umstand, dass wir es tatsächlich bis ins innere Wien geschafft hatten, feierten wir mit Schwechater und Käsekrainer. Vielleicht war es das letzte Schwechater, das ich bis heute getrunken, und die letzte Eitrige mit Buckel, die ich gegessen habe. Es war ein Hochgenuss. Wien war erobert. Jetzt konnte alles losgehen, am besten sofort. Alles musste ja immer sofort geschehen. Geschah es nicht augenblicklich, bestand die Gefahr, dass es nie geschah. Und das wäre jammerschade gewesen, egal, um was es sich handelte. Alles barg die Möglichkeit eines neuen Abenteuers in sich, eines neuen Durchbruchs. So sah ich zumindest damals die Welt.
Mit solcher Unrast aber, das merkte ich bald, war ich in Wien am falschen Ort. Diese Stadt hatte ein anderes Tempo. Sie verweigerte sich der Zeit und folgte ihrem eigenen Rhythmus. Die Uhren in Wien tickten langsamer, so wie die Menschen hier langsamer redeten und agierten als im Westen. In dieser Mentalität lag ein großer Vorteil, das erkenne ich heute, Wien konnte durch das Einstreuen von Zeitlöchern länger als andere Städte so manche Perversitäten der Moderne von sich fernhalten. Vieles in Wien ist bis heute altmodischer als anderswo. So sympathisch ich dies
inzwischen finde, als getriebener 17-jähriger Tiroler (einer, dem heute ADHS diagnostiziert und der mit Ritalin ruhiggestellt werden würde) stand mir damals nicht der Sinn nach Abbremsung. Ich wollte nicht aufgehalten werden und kannte nur eines: Vollgas. Das stoische Wien aber ließ sich von meinem Ungestüm nicht beeindrucken. Ich hatte mich seinem Tempo anzupassen, nicht umgekehrt.
Im ersten Eindruck kam mir Wien 1987 vor wie eine untergegangene Welt. Tatsächlich war die Stadt zu diesem Zeitpunkt hoffnungslos überaltert und am Aussterben. Seit Jahrzehnten sank die Einwohnerzahl. Wien war keine blühende Metropole mehr wie noch zu Beginn des Jahrhunderts. Das Weltgeschehen spielte sich jetzt woanders ab. Wien war vom Zentrum der Welt in die Peripherie gerückt, es war die letzte Station vor dem Eisernen Vorhang. Weder Westen noch Osten war Wien, sondern irgendwo dazwischen in einen Dornröschenschlaf gefallen. Der Geburtenknick und die unvorteilhafte geografische Lage hatten die Stadt schrumpfen lassen. 1987, just mit meinem Auftauchen beim Würstelstand in der Operngasse, hatte Wien sein historisches Allzeittief erreicht und zählte nicht einmal mehr anderthalb Millionen Einwohner – ein Viertel weniger als heute oder auch als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und genauso präsentierte sich mir die schöne Stadt an der Donau: graue, leere Gassen, die den Anschluss zur Welt verloren hatten. Zahllose Fenster in den Häusern waren dunkel. Wenn Licht brannte, weil hier noch Menschen lebten, waren muffige, schwarzgraue Gardinen zu sehen. Durch die Straßen fegte ein bitterkalter kontinentaler Wind. Niemand außer missmutigen Pensionistinnen und Pensionisten, die sich bei ihren Alltagserledigungen nicht rasch genug fortbewegen konnten, hielt sich unter diesen Bedingungen lange im Freien auf. Die meisten Wiener Damen führten ein Schoßhündchen an der Leine, das, sobald es den Drang danach verspürte, ein Trümmerl fallen ließ. Die Gehsteige Wiens waren von diesen Hinterlassenschaften übersät, es gab noch kein gesellschaftliches Abkommen, dass Hundebesitzerinnen die Rückstände ihrer Lieblinge zu entsorgen hatten. Ich weiß nicht, wie oft ich, der ich ständig in Eile war und durch die Straßen hetzte, in Hundekot trat und lauthals fluchte.

Mittendrin statt nur dabei

Wie war das damals, im Wien der 1980er und 1990er, auszugehen, was erleben zu wollen? „Alles damals war ein Rausch, in mir und um mich herum“, findet Hans Platzgumer. Das mag zwar auch damit zu tun haben, dass er gerade als frischgebackener Maturant Innsbruck hierher entflohen war. Denn wie er weiter ausführt: 1987 war Wien mit 1,5 Millionen Einwohnern so klein wie schon lange nicht, und er sah vor allem Pensionisten in den „grauen, leeren Gassen, die den Anschluss zur Welt verloren hatten“.
Doch wo im Land hätte man sonst hinsollen? Oder wie Katja Gasser es ausdrückt: „Nach Graz zum Studium gingen nur Feiglinge. Und in Klagenfurt blieben ohnehin nur die, die nicht anders konnten.“Folgerichtig begann sich hier etwas zu entwickeln. Davon handelt der Band Branntweiner, Blue Box und Bermuda Dreieck.
Verlegerin Vanessa Wieser hat dafür 18 Kurztexte von Kulturmenschen zusammengetragen, die in jenen Jahren mittendrin statt nur dabei waren. Lauter persönlich gefärbte Erinnerungen, in denen das U4 nie fehlt. Sehr bezeichnend. Peter Waldeck kannte immerhin noch das Montevideo (mit „Hochglanz-Discosoul“und Schnöseln).
Christopher Just machte mit zwölf seine Oma zur Komplizin beim Fortgeh-Alibi für seine Eltern. Die wohl nicht unrecht mit dem Verbot hatten, liest man die Erinnerungen von Lokalbesitzer Herbert Molin, der „echt Unmengen hineingesoffen“haben will, „was natürlich auch mit den begleitenden Drogen zu tun gehabt hat“.
Amina Handke, Tochter des späteren Literaturnobelpreisträgers, ist mit 17 auf eigene Faust und allein hier aufgeschlagen. Erinnerungen an ein Klo am Gang und Dusche im Wohnzimmer teilt sie wohl mit vielen. Jene, Platten in reißenden Sackerln zum DJ-Gig zu schleppen, muss ihr aber erst wer nachmachen.
Für die Autorin und Fotografin Ela Angerer war Wien, über Paris aus Vorarlberg hier gelandet, zwar „auf faszinierende Weise dark“, aber bald auch voller spannender Künstlerinnen.

Der Standard, November 2024, Michael Wurmitzer



DIE NACHT WAR NOCH JUNG

Eine graue Stadt voller Hundstrümmerl, das war Wien in den 1980er-und beginnenden 90er-Jahren. Bei Einbruch der Nacht kam aber Leben in neue, aufregende Lokale. Ein Buch lässt Szenemenschen von damals nostalgisch zurückblicken. Manche schafften es endlich ins U4, einige beschimpften eine Legende aus Berlin und ein paar trafen wirklich auf Falco.

Conny, lass den Buam eine“, sagte der Franz, Chef des angesagten Motto, zum Türsteher des nicht minder angesagten U4 in den Achtzigern. Im Schlepptau hatte er einen blutjungen Mitarbeiter, der sich nichts sehnlicher wünschte, als einmal diese hochgelobte Disco zu besuchen.
Conny De Beauclair, der eigentlich für seine Türpolitik berüchtigt war, widerstrebte es. Das U4 war ja kein Kindergarten, sondern ein Szene-Treffpunkt. Aber er musste Franz einen Gefallen tun. Und dann war der Teenie-Bursche drin. „Da macht es mir auch kaum was aus, dass der Eintritt hundert Schilling beträgt, weil eine Blödelpunkband namens Tote Hosen auftritt. Selbst dass mir deren Kirtag-Musik kaum gefällt, ist mir wurscht, denn ich habe es geschafft, stehe endlich hier im U4 und spüre, dass genau jetzt ein neuer Abschnitt in meinem Leben beginnt“, schreibt der Autor Christopher Just über seine Initiation in der damals legendärsten Disco Wiens. Die Sache mit der Kirtag-Musik wird bleiben. In den Neunzigern wird Just mit der Happy-Hardcore-Formation Ilsa Gold die voranschreitende Kommerzialisierung des Technos anprangern.
Nostalgische Blicke auf das Wiener Nachtleben der Achtziger und Neunziger wie diese gibt es im Buch „Branntweiner, Blue Box und Bermuda Dreieck“ (Milena-Verlag), das Vanessa Wieser herausgegeben hat. Es ist eine Hommage an eine Ära voller Mythen und Delirien, bei der in Nachbetrachtung auch die Erinnerungen verschwimmen können.
„Es gibt einen Witz zu der Zeit: Alle haben Falco getroffen, alle waren bei Nirvana im U4“, sagt die Autorin und Herausgeberin Wieser über ein Wien, das sich langsam verwandelte – und viele wären gerne bei den großen Momenten dabei gewesen.
Aus dem Schlaf erwacht Anfang der 1980er-Jahre war Wien eine graue Stadt, voller Kohlerauch, Hubertusmänteln und Hundstrümmerl und mit so wenigen Einwohnern wie schon lange nicht mehr. Wien wirkte – auch wegen der Nachbarschaft zum Ostblock – wie das Ende der Welt.
Doch dann tauchte Neues auf: Punk, New Wave, Subkultur. Die Stadt blieb zunächst noch grau und trüb, doch plötzlich lag ein Hauch von Aufbruch in der Luft – Wien war auf einmal angesagt. Auch die deutschen Nachbarn, die dem Zeitgeist hinterherjagten, blickten auf einmal etwas neidig auf die ehemalige Metropole, die schön langsam wieder aus ihrem langen Schlaf erwachte – während andere mit einem Kater aus dem Bett stiegen. Wenn sie zuvor etwa im B.A.C.H., Nachtasyl, Café Europa, dem alten Flex, dem Roxy oder im Motto versumpert sind. Oder natürlich im U4, ob mit oder ohne Falco oder dem Nirvana-Konzert 1989 mit ein paar hundert Menschen im Publikum.
Der Unterschied zu heute? „Wir waren jung und alles war super“, sagt Wieser, die 1988 zum Studieren von Linz nach Wien zog. Da machte es auch nichts, dass das Geld knapp war. Während heute holzvertäfelte Wirtshäuser zu Edelbeisln mit Beuschel-Preisen von 30 Euro mutieren, war damals das Schnitzel billig. Und die verbliebenen Tschocherln, in denen sich heute Leute treffen, die auf ihre Coolheit großen Wert legen, wurden damals als das genommen, was sie waren: kostengünstige Tankstellen für die Reise durch die Nacht.
„Es gab noch nicht so viele Möglichkeiten wie heute, aber wir haben sie mehr genutzt“, sagt Wieser. Fast täglich sei sie auf der Piste gewesen. Wie so viele andere, die Wien bei Nacht gesehen haben. Dass die Stadt in der Nacht aufblühte, dürfte wohl dem Punk oder auch dem Bürgermeister Helmut Zilk, der vieles zugelassen hat, zu verdanken sein, mutmaßt etwa Herbert „Herbie“ Molin im Gespräch mit Wieser. Er hat unter anderem die Blue Box mitbegründet und die Punk- und New-Wave-Bewegung sowie die experimentelle Elektronik-Szene mitgestaltet und später das Rhiz oder das B72 aufgesperrt. „Und dann war natürlich die Arena-Besetzung ganz wichtig. Oder dass die Szene Wien, die damals noch zur Stadthalle gehörte, aufgesperrt hat, das wurde ein ganz wichtiger Raum für viele gute Konzerte“, sagt Molin. „Und dann war das U4 natürlich extrem wichtig.“ Heute frönen die jungen Menschen weniger dem Rausch: „Das Thema Gesundheit war uns damals jedenfalls wurscht, und auch drogenmäßig haben wir nicht gar so viel ausgelassen, und wirklich viel gesoffen und geraucht sowieso und fortgegangen Ende nie.“ Anders als jetzt gab es um den Naschmarkt auch viele Sachen, die das zugelassen haben: „Es hat auch an der Wienzeile einige lustige Lokale gegeben, da gab es eines mit einer taubstummen Frau, leider weiß ich nicht mehr, wie das geheißen hat, das war super, da ist man um 7, 8 Uhr Vormittag hingegangen und hat dort weitergesoffen.“
Diese Möglichkeiten – Beisln, Disco, Konzerte und künstlich erzeugte Hochgefühle – faszinierten die jungen Menschen, die aus den Bundesländern in die Hauptstadt kamen.
„Für uns war es hier das Paradies“, sagt Wieser. „Die autochthonen Wiener haben hingegen mehr über ihre Stadt geraunzt.“ Natürlich war in London oder Berlin alles besser. Die großen Hypes aus dem Ausland brauchten stets etwas, bis sie aufschlugen.
So auch die, wie „alles in Wien gemächlich und ohne Hypes entstehende Rave- und Clubkultur“, wie sich Kulturwissenschaftler Christian Moser-Sollmann erinnert. Aber Wien ist nun einmal Wien. Und dass hier alles später passiert als anderswo, hat schon Gustav Mahler festgestellt. „Wien ist anders“, heißt es ja immer gerne noch. Auch von Menschen, die der Stadt nicht gewogen sind. Für Moser-Sollmann trifft das aber eher nicht zu: „Für einen notorisch klammen Jungerwachsenen war Wien das gelobte Land: Ich schlängelte mich ab halb drei in Clubs rein, weil da kein Eintritt mehr verlangt wurde; ich wurde von menschenfreundlichen Türsteherinnen wie Parsia Kananian ins WUK geschleust; ich wurde vom Rausschmeißer der Arena gegen ein bescheidenes Bestechungsgeld von 100 Schilling ins ausverkaufte Nirvana-Konzert gelassen.“
Aber nicht alles scheint nett gewesen zu sein: „Underground-Konzerte waren damals harte Veranstaltungen“, erinnert sich der Kulturschaffende Peter Waldeck. Das musste auch Einstürzende-Neubauten-Frontmann Blixa Bargeld erfahren. Er war als Gitarrist bei den Bad Seeds, der Begleitband von Nick Cave in Wien, wurde nicht „mit freundlichem Applaus und aufmunterndem Gejohle begrüßt, sondern mehrfach mit Schreichören als ‚Blixa, du Wichser!‘ bedacht“. Dieser schimpfte zurück. Offenbar hatte ihm das Publikum nicht verziehen, dass er sanfte Töne anschlug, statt mit der Bohrmaschine wilde Töne zusammenzuschrauben.
Wien ist eben streng mit seinen Helden. Auch mit Falco, den einige tatsächlich trafen. Oder zumindest sahen. Wie etwa die Schriftstellerin und Fotografin Ela Angerer im U4: „Und natürlich kann auch ich berichten, dass ich zwischen Falco und Helmut Lang am Rand der Tanzfläche stand (beide mit schwarzer Sonnenbrille).“ Aber beeindruckt war sie nicht. Im Gegenteil: „Einer wie der andere wirkte verkrampft. Falco war mir außerdem zu g’spritzt, weil mehr der Typ Reiss-Bar – das Schickimicki-Lokal in einer Seitengasse der Kärntner Straße, mit auffallender Dichte an sonnenstudiogebräunten Prosecco-Trinkern. Aus heutiger Sicht: Miami Vice für Arme.“ Da gefiel ihr „Ich spiele Leben“-Sänger Hansi Lang dann doch besser: „Der lebte die schönere Wiener Traurigkeit“.

Freizeit Kurier, Daniel Voglhuber, November 2024


„Am besten sofort“
Wo findet man in dieser grauen Stadt ein cooles Lokal? Gibt´s irgendwo ein WG-Zimmer ohne Klo am Gang? Und wann lässt mich der Conny ins U4? In dem Buch „Branntweiner, Blue Box und Bermuda Dreieck“ erinnern sich Kultur-, Medien- und sonstige Szeneleute ans Ausgehen und den Rest des Lebens im Wien der 80er und 90er Jahre – Hangover garantiert!
Flex, Chelsea, U4, B.A.C.H., Nachtasyl, Café Europa, rhiz, Café Alt-Wien, Motto, Roxy, Freihaus, Arena, Szene Wien, Black Market oder Rave Up Records: Wer bei diesen Namen Bauchkribbeln verspürt, der gehört wohl jener Generation an, die in diesem Buch ironisch, elegisch und betont lässig auf eine Zeit zurückblickt, als die Bevölkerungszahl der Stadt am gleichen Tiefpunkt war wie die allgemeine Stimmung, als man sich mit Vierteltelefonen zu verständigen suchte, heutige Hipster-Bezirke im Grau versanken und Internationalität maximal bedeutete, dass Busladungen von Ungarn die Mariahilfer Straße bevölkerten.
So unterschiedlich die in dem Buch versammelten 18 Berichte über mehr oder weniger exzessive Jugend- und Jungerwachsenen-Jahre sind, so gibt es doch einiges, was sie verbindet: Etwa dass Wien zwar furchtbar deprimierend gewesen sei, dass die wenigen alternativkulturellen Oasen in der Stadt dennoch eine Vitalität versprüht hätten, die alle Ölheizungen in den Wohnungen und Hundstrümmerln auf den Straßen retrospektiv in einem rosigen Licht erscheinen lassen. Die Stadt war dumpf, bot aber Nischen, Reibeflächen, Freiräume, Mini-Szenen für ganz unterschiedliche Geschmäcker.
Wer jung ist, hat meist wenig Geld – aber damit ließ es sich doch einigermaßen gut leben, wenn man bescheidene Ansprüche an Wohnqualität und ausgewogene Ernährung hatte und sich zu helfen wusste: „Ich schlängelte mich ab halb drei in Clubs rein, weil da kein Eintritt mehr verlangt wurde; ich wurde von menschenfreundlichen Türsteherinnen wie Parsia Kananian ins WUK geschleust; ich wurde vom Rausschmeißer der Arena gegen ein bescheidenes Bestechungsgeld von 100 Schilling ins ausverkaufte Nirvana-Konzert gelassen“, erinnert sich etwa der Journalist Christian Moser-Sollmann.
Wien ist anders: Der einstige Werbeclaim der Stadt passte nicht zuletzt besonders für jene, die aus den Bundesländern kamen, um den elterlichen Umklammerungen zu entkommen. Hans Platzgumer reiste mit einem Freund drei Tage lang auf einer KTM Quattro von Innsbruck in die Bundeshauptstadt, Endstation war ein Würstelstand am Karlsplatz: „Wien war erobert. Jetzt konnte alles losgehen, am besten sofort.“ Was allerdings ein Problem war, denn man musste sich an den langsamen Rhythmus der Stadt anpassen: Nur ned hudeln statt Vollgas. „Wien war groß genug und klein genug“, beschreibt die ORF-Literaturredakteurin Katja Gasser, aus Kärnten kommend, ihr Gefühl beim Eintauchen in die Stadt.
Ein zentrales Thema: die Suche nach coolen Plätzen, Geschäften, Lokalen. „Was die Wahl des ´richtigen` Plattenladens angeht, hätte man sich viele Demütigungen ersparen können, wenn man gleich ins Rave Up gegangen wäre“, so der Publizist und Drehbuchautor Robert Buchschwenter. Dort konnte sich auch der Musiker und Musikproduzent Christopher Just blicken lassen, anderswo noch nicht. „Heute Abend will ich ins U4 – doch es gibt ein Problem. Ich bin zwölf Jahre alt“, beginnt sein Text, in dem er u.a. die Partynächte im Motto beschreibt, wo er einige Jahre später seine Karriere als DJ startet. Irgendwann schleust ihn ein Kollege dann doch ins U4, vorbei am Conny, der Türsteherlegende des U4 (das von Walter Gröbchen passenderweise als Conny Island bezeichnet wird). Auch Amina Handke versorgte sich im Rave Up mit Platten. „Übrigens, ohne selbst gekaufte Platten kein DJ. Und von denen gab´s nur die, die da waren, also schnell sein und jeden Schas kaufen!“ Noch heute würden sie Leute darauf ansprechen, ob sie nicht vor 35 Jahren im alten Chelsea in der Arndtstraße aufgelegt habe.
Die titelgebende Blue Box in der Richtergasse im 7. Bezirk kommt nicht nur in einigen Texten vor, sondern ist zentral durch ein Interview mit Herbert Molin vertreten, der das einstige Szenelokal 1983 gemeinsam mit Freunden eröffnet hat. Die Idee, den hinteren Raum alle drei bis vier Monate umzugestalten, habe er sich vom Lokal Ring abgeschaut, das gegenüber der Angewandten war und an das man sich heute kaum noch erinnert. Ein „irrwitziges Konzept“, das unglaubliche Energie gekostet habe. Wie auch die „Suche“ nach einem Publikum: Denn das Lokal sei keineswegs von Anfang an „in“ gewesen, „aber irgendwie hat es dann später funktioniert, frage mich nicht, warum. Wahrscheinlich wegen der Musik und weil jeder von uns relativ viele Leute gekannt hat.“
Das Wiener Tageslicht hat in dem Buch wenig Raum bekommen, hie und da blitzen diesbezügliche Details auf, an die man sich aus gutem Grund nicht mehr erinnern will – etwa geschlossene Supermärkte am Samstag. Ein musikalisches Fenster in die Welt war die Musicbox auf Ö3, wo u.a. Werner Geier die Hörgewohnheiten gehörig durcheinander wirbelte. Natürlich durchzieht das ganze Buch jede Menge Name Dropping, von legendären Konzerten bis zu unvergesslichen Barkeeper:innen, die Coolness wird selbstredend in den Texten auch stilistisch zelebriert. Der ebenfalls titelgebende Branntweiner erinnert an den omnipräsenten exzessiven Alkoholkonsum, vom ebenfalls titelgebenden Bermuda Dreieck ist allerdings nur selten die Rede – das war dann im Vergleich zu den genannten Orten doch eher mainstreamig. „Schnösel, Angeber und seelenlose Lokale zogen mich nicht an“, so urteilt darüber Vanessa Wieser, die Initiatorin, Herausgeberin und Verlegerin des Buches (Milena-Verlag), die in ihren eigenen Erinnerungen nicht nur Szenelokale, sondern auch tiefe Festln im Studentenheim und Schnitzeln im Phönixhof beschwört.
Es ist ein unterhaltsames Buch geworden, mit sehr persönlichen, teils auch schrägen Texten, die eine Szene beschreiben, die längst Legende geworden ist. Die Lektüre ist so rasant wie eine Lokaltour bis zur Sperrstund, wo man am liebsten weitermachen würde. Zurück bleibt das Staunen über schnelle Jahre in einer langsamen Stadt. Oder wie es Rainer Krispel, Punk-Legende aus Linz, beschreibt: „Eh, wow, leiwand! Ich habe gelebt, in Wien, ich war unterwegs.“

Magazin Wien Museum, Peter Stuiber, Oktober 2024


Buchtipp: Wiener Szenen 1980 bis 1999

Zu zweit auf einem Moped machten sich 1987 Hans Platzgumer und ein Freund von Innsbruck aus auf nach Wien. Mit wehen Hinterteilen und großen Erwartungen kamen sie drei Tage später dort an. «Auf seine Weise hatte Wien, das damals so wenig zu bieten hatte, viel zu bieten», schreibt der Musiker und Schriftsteller Platzgumer in seinem Beitrag «1987. Die graue Zeitlupenstadt», der den Sammelband Branntweiner, Blue Box und Bermuda Dreieck. Unterwegs im Wien der 80er und 90er eröffnet. Zu bieten hatte Wien z. B. tolle Rock- und Punkkonzerte, niedrige Mieten und billige Preise in der Gastro. Die Stadt, die bis zum Ende des «realen Sozialismus» unweit des «Eisernen Vorhangs» lag, war noch nicht von Gentrifizierung und Neoliberalismus betroffen und war diesbezüglich, aber auch etwa in Sachen Partykultur, westlichen Großstädten hintennach. Ab den 90ern änderte sich das. Wien wurde bunter, was seine Fassaden, diverser, was seine Bevölkerung betraf und teurer in allen Bereichen.
16 Zeitzeug:innen aus der, sagen wir im weitesten Sinn, ¬Kulturszene hat Vanessa Wieser (Journalistin, Verlegerin, Herausgeberin u. a. des Bandes Wien schöntrinken) gebeten, ihre Erinnerungen schriftlich niederzulegen. Wieser selbst erzählt vom Leben und Feiern in Studierendenheimen und vom Abschluss durchgemachter Nächte beim Branntweiner. Der Titel des Interviews, das Wieser mit Blue-Box-Mitgründer Herbert Molin führte, lautet «Eigentlich waren immer alle besoffen». Dass indoor allerorts dicke Zigarettenrauchschwaden Atmung und Sicht erschwerten, ist ebenfalls Fakt.
Ihre Sicht der 80er/90er ¬teilen u. a. Christian Fuchs (FM4), ¬Christopher Just (Ilsa Gold, Der Moddetektiv), Künstlerin und DJ Amina Handke, Augustin-Musikarbeiter Rainer Krispel oder ¬Katja Gasser (ORF Literatur).

Augustin, Jenny Legenstein, Oktober 2024

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