€ 24.00

ISBN 978-3-903460-39-3
ca. 200 Seiten
gebunden, mit Leseband
Erscheint Februar 2025

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Else Feldmann

Löwenzahn. Eine Kindheit

Else Feldmanns erzählt die stark autobiografisch gefärbte Geschichte ihrer Kindheit in den 1920er Jahren in Wien. Sie schildert ihre Alltagserfahrungen, ihre Beziehungen zu den Geschwistern und Eltern sowie ihre ersten Erfahrungen mit Kunst und Literatur. Löwenzahn ist ein berührendes Porträt der damaligen Arbeiterschicht und zeigt auf beeindruckende Weise, wie schwer man hochkommt, wenn man arm ist.

Das proletarische Milieu Wiens zu Beginn des letzten Jahrhunderts ist die Welt, in der Else Feldmanns erster Roman „Löwenzahn“ spielt.
Die Ich-Erzählerin Marianne, etwa 12 Jahre alt, lebt mit ihrer schwerkranken Schwester und ihrem ein paar Jahre älteren Bruder in Wien. Vater und Mutter gehen arbeiten, trotzdem lebt die Familie von den Einkünften mehr schlecht als recht.
Marianne versteht die Ordnung der Welt nicht so recht, Mitschülerinnen aus „gutem“ Hause meiden und hänseln sie wegen ihrer Armut, und die Mädchen, die ebenfalls aus einfachsten Verhältnissen stammen, sollen für sie kein guter Umgang sein. Die Lehrerinnen in der Schule sind grausam und ungerecht, jede ehrliche Antwort wird mit dem Rohrstock bestraft, es herrscht autoritäre Willkür.
Als der Vater ins Import-Export-Geschäft einsteigt, bessert sich die finanzielle Lage der Familie, das Leben wird farbenfroher, nun klappt es auch besser mit den Freundschaften. Was sich nicht ändert, ist das Leben rundherum, die kleine Marianne ist Gefahren ausgesetzt, über die sie nicht sprechen kann.

Nach der Erstveröffentlichung schrieb der Literat und Kritiker der Neuen Freien Presse Felix Salten am 25.1.1922: "Es ist ein seltsames Buch, das man mit Schmerz und mit Entzücken liest und das man unweigerlich bewundert, das man bedingungslos liebt, wenn man es gelesen hat."

Mein Leben begann eigentlich als Missverständnis. Mutter stillte meine zukünftige Schwester, die gerade ein paar Monate alt war, als ihr auffiel, dass ihr Bauch immer größer wurde. Ihr erster Gedanke war: »Großer Gott, ich habe einen Tumor.« Auf die Idee, dass es etwas anderes sein könnte, kam sie gar nicht, denn zur damaligen Zeit war man der Meinung, dass es während der Stillzeit nicht möglich ist, wieder schwanger zu werden.
Voll Sorge ging sie zu unserem Hausarzt Dr. Braun, der gleich um die Ecke in der Großen Stadtgutgasse ordinierte. Er beruhigte sie nach einer kurzen Untersuchung: »Gratuliere, Frau Kühnberg, Sie haben keinen Tumor, Sie sind im fünften Monat schwanger.«
Mutter traf fast der Schlag. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer neuerlichen Schwangerschaft. Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe. Mutter erzählte uns später, dass sie den Arzt damals mit erhobenen Händen anflehte: »Herr Doktor, Sie müssen mir helfen! Wie sollen wir das finanziell verkraften? Wir kommen ja schon jetzt mit dem Geld nicht aus!«
Dr. Braun erwiderte lachend: »Frau Kühnberg, wenn Sie sieben Kinder ernähren können, werden Sie auch das achte schaffen.«
So verständnisvoll und einmalig Dr. Braun auch war, in diesem Fall blieb er unerbittlich. Mutter musste mit der Tatsache fertig werden, noch ein Kind aufzuziehen und zu ernähren. Ein Glück für mich, dass ihr Dr. Braun damals so ins Gewissen redete. Wo wäre ich sonst?
Dabei handelte er eigentlich gegen sein eigenes Interesse, denn er wusste genau, was auf ihn zukam: Er hatte fast nur Patienten, die entweder arbeitslos waren oder ohnehin nichts hatten. Eine Krankenversicherung gab damals auch nicht. In vielen Fällen – so wie manches Mal bei uns – legte er sogar das Geld für die Medikamente aus, die zwar dringend gebraucht wurden, aber nicht bezahlt werden konnten. Er wusste, dass die Leute, wenn sie wieder Geld hatten, ihre Schulden zurückzahlten. Er war unglaublich geduldig, nie wurde einer seiner Patienten wegen der Bezahlung gemahnt. Mit einem Wort: Er musste oft lange warten, bis er zu seinem Honorar kam. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Engel in Menschengestalt.
Sein Ruf als guter Arzt war weit verbreitet. So hatte er außer uns Minderbemittelten sehr viele wohlbestallte Geschäftsleute aus der Umgebung als Patienten. Diese trugen dazu bei, dass er, ohne uns mahnen zu müssen, überhaupt existieren konnte. War er nicht in der Ordination, sah man ihn oft mit seiner zerfledderten Arzttasche Patienten besuchen. Meine Eltern waren schon froh, wenn sie die Miete pünktlich bezahlen konnten. Zahlte man nicht pünktlich, wurde sofort delogiert. Die Angst davor war die größte Sorge der Leute in unserer Gegend.
Wir wohnten in der Leopoldstadt, Glockengasse 29. Die Wohnung bestand aus einem Zimmer, der Küche und einem Kabinett; Wasser und zwei Plumpsklos, ausgestattet mit klein geschnittenen alten Zeitungen als Klopapier, befanden sich am Gang. Die zerschnittenen Zeitungen wurde fein säuberlich auf einen Spagat aufgefädelt und abreißbereit mit einem Nagel an die Wand gehängt. So viel Ordnung musste sein.
Die zwei Klos und die Bassena am Gang wurden jeden Tag in der Früh zu einem großen Problem. Da an jeden Gang fünf Wohnungen grenzten und in jeder Wohnung mindestens fünf bis sechs Leute wohnten – bei uns waren es zehn –, gab es jeden Morgen vor der Bassena und dem Klo ein Gedränge. Es ging zu wie in einem Turnsaal. Man hüpfte von einem Bein auf das andere, um auf die Dringlichkeit des Bedürfnisses hinzuweisen. Wurde die Lage zu brenzlig, rannten die meisten in ihre Wohnung und benützten einen Kübel. Dann stellten sie sich mit den vollen Kübeln wieder an, um diese auszuleeren. Da hatten sie sogar Zeit für ein kleines Tratscherl.
Mutter war morgens immer die Erste. Sie stand bereits um fünf Uhr am Gang. Den hatte sie um diese Zeit für sich allein. Sie füllte sämtliche Gefäße mit Wasser, damit wir uns alle waschen konnten. Dann weckte sie Vater. Wenn wir Kinder aufgeweckt wurden, waren die Eltern schon mit ihrer Garderobe fertig. Sie waren komplett gewaschen und angezogen. Wir Jungen haben die beiden nie, nicht ein einziges Mal, nackt gesehen, nicht einmal in der Unterwäsche. Weder Mutter in einer Kombinege noch Vater in der Unterhose. Ich weiß nur, dass er lange Unterhosen trug, denn Mutter musste sie ja bügeln.
Später, als wir älter waren, haben wir uns immer gewundert, wie die beiden überhaupt Kinder gezeugt haben, so genant, wie sie waren – und das in dieser kleinen Wohnung. Als Jüngste wurde ich immer als Letzte geweckt und zog mir so die Wut der anderen zu. Um mit den anderen beim Frühstück sitzen zu können, war ich mit meiner Katzenwäsche bald fertig. Mutter schimpfte dann mit mir und meinte, ich sähe aus wie ein Rauchfangkehrer. Ich sagte zu ihr: »Schau, ich will dir doch nur
helfen, damit du nicht so viel Wasser schleppen musst!«
Mutter lachte dann und sagte: »Du bist eine ganz Raffinierte.«
Ich war wirklich mit allen Wassern gewaschen. Ich muss zugeben, von meinen Geschwistern war ich diejenige, die immer auffi el. Manchmal angenehm, meistens war das Gegenteil der Fall. Als zum Beispiel im Jahr 1939, da war ich 11 Jahre alt, zwei HJ-Buben eine Bekannte auf der Straße beschimpften und bespuckten, gab ich einem von ihnen einen Fußtritt. Eine Rauferei war die Folge. Aber das war es mir wert. Bereits in ganz jungen Jahren konnte ich keine Ungerechtigkeiten ausstehen.

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