€ 25.00

ISBN 978-3-903460-36-2
332 Seiten
gebunden
Erscheint März 2025

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Jan Kossdorff

Der glückliche See

Vier Geschwister, ihre Eltern, die Erinnerung an den Großvater, die Verbundenheit mit einer Stadt: 2022 kommt eine Familie am Ufer des Traunsees zusammen, um ihren Zusammenhalt in unsicheren Zeiten zu feiern. Doch Veränderungen und Turbulenzen kann sie nicht verhindern – und auch nicht, dass manche Dinge sich wiederholen.

Sie sind keine durchschnittliche Familie in der Kleinstadt Gmunden im Salzkammergut: Die Kinder tragen Namen wie Jola oder Aino, der Vater war Hausmann, und die Mutter verdiente als Fotografin das Geld. Jeder kennt sie in der Stadt, auch weil der Großvater Professor am Gymnasium und Hobbydichter war.
Doch alles ändert sich: Die Geschwister Aino, Valentin, Jola und Leander sind heute zwischen 40 und 50 Jahre alt und leben zwischen den USA und Salzburg, die Eltern sind geschieden. Auch wenn Humor, Herzlichkeit und die Ablehnung von Spießertum immer noch auf dem Familienbanner stehen, zieht der widerständige Geist der Familie in den Kompromissen des Alltags oft den Kürzeren. Die Zeiten werden schwieriger, Träume bleiben manchmal nur Träume, und was anderen zustößt, scheint plötzlich auch einen selbst treffen zu können.
Anlässlich des Besuchs der jüngsten Tochter Aino, die in New York lebt, versammeln sich die Geschwister und Eltern an einem Sonntag im Januar im Haus des Vaters am Traunsee.

Ein wunderschöner und humorvoller Gegenwartsroman über eine Familie, deren Mitglieder ihre Beziehungsnetze in alle Richtungen auswerfen.

„Die Straße senkte sich zum See hinab, Leander setzte sich wieder auf, nahm den Fuß leicht vom Gas und rollte den Berg hinunter nach Altmünster. Vor ihm leuchteten Bremslichter auf, bei der Ortseinfahrt stauten sich die Autos. Während sie Stoßstange an Stoßstange wie in einer Prozession in den Ort einfuhren, klopfte Leander mit den Fingern auf das Wurzelholz-Lenkrad und sah seitlich aus dem Fenster: das Ufer des Sees in der Dämmerung, Spaziergänger mit Hunden, Jugendliche mit Mopeds, die unbeeindruckt von der Kälte in dünnen Jacken zusammenstanden und rauchten. Die alten Vespas waren wieder angesagt, vielleicht war seine eigene darunter, die er ‘89 oder ‘90 nach Pinsdorf verkauft hatte. Erstaunlich, wie manche Erinnerungen an Farbe und Schärfe gewannen, wenn die eigene Lebenserwartung durch eine schlechte medizinische Nachricht auf einmal drastisch verkürzt war.“
(Aus dem Text)

Am Vormittag traf Valentin als Erster bei seinem Vater ein. Während Max in der Küche arbeitete, ging
Valentin für einen Moment in den Garten. Nur ein schmaler Fußweg trennten Haus und Wiese vom
Ufer des Sees. Der Grund fiel zum Wasser hinunter ab, und er hockte sich in die Wiese und genoss
den Blick auf den See. Ein einzelnes Ausflugsschiff durchkreuzte von Gmunden kommend das
Gewässer. Er hörte seinen Vater im Haus mit Geschirr hantieren, im Hintergrund leise das Bass-Solo
aus Mahlers erster Symphonie. Dann die Stimme seines Vaters Max: »Aino sagt, sie kommen gegen
zwei.«
»Ach, erst?«, rief Valentin zurück.
»Ja, leider. Ich bin gespannt auf Mr. Wonderful …«
Valentin stand auf und ging gemächlich die Stufen zur Terrasse hoch. »Was wissen wir denn über
ihn?«
Max strich die Hände an seiner Küchenschürze ab und brachte zwei Schüsseln mit seinem berühmten
Tomatenpesto auf die sonnige Veranda. Er war gebräunt vom Skifahren, sein weißer Haarkranz stand
unfrisiert vom Kopf weg. »So gut wie nichts.«
»So ist es doch immer bei ihr, sie will ihre Männer für sich selbst sprechen lassen.«
»Das ist ja legitim, das finde ich sogar gut, aber dieses Mal schürt sie gleichzeitig unsere Neugier mit
so kleinen Bemerkungen …«
»Ja?«
»Ja, ja. Er ist ein Himmelsstürmer. Das fiel einmal, sagt Monika. Und er ist ihr Anker.«
»Widersprüchlich, oder nicht?«
»Ja, doch!«
»Ist er ein Amerikaner? Ich würde dich gerne mal wieder englisch reden hören … Well, well, I love to
speaking English!«
Max gab Valentin einen Klaps auf den Hinterkopf, dann legte er den Arm um ihn. »Er ist Österreicher,
so viel wissen wir immerhin.«
»Da zieht man in die Ferne und kommt mit einem Pichler oder Moser heim …«
»Was stichelst du so? Hauptsache, sie hat ihn lieb. Ich hoffe, er ist kein Schwurbler!«
»Was meinst du?«
Max löste sich von seinem Sohn und sah ihn verwundert an. »Du weißt, wer mit den Schwurblern
gemeint ist, oder?«
»Du meinst, einer reicht in der Familie?«
Max sah Valentin tadelnd an.
»Sven wird sich impfen lassen, hat Irma gesagt.«
»Ihn zu bekehren, sollte nicht ihre Aufgabe sein!«
»So sind Kinder! Du wolltest auch nicht, dass ich Auto fahre, wenn ich was getrunken hatte. Du hast
meine Schlüssel versteckt!«
»Ja. Und es wäre mir lieber gewesen, ich hätt’s nicht müssen.«
Max knetete Valentins Schultern. Er war so liebesbedürftig, dachte Valentin, so nähesuchend. Von der
Freundin, die er letztes Jahr gehabt hatte, war auch nicht mehr die Rede. Wo war die hin? Die
Beziehungen dieser Generation hielten so kurz! Sie waren nicht bereit, irgendwelche Abstriche bei
ihrer Lebensqualität zu machen. Und allein fernzusehen – das, was sie wollten, in der Lautstärke, die
sie wollten –, dieses Recht galt es zu verteidigen!
Leander parkte seinen Jaguar neben einem Kleinbus mit einem Kasperl-Logo auf der Schiebetür.
Valentin hatte also ernst gemacht. Vor ein paar Monaten hatte er ihn spätabends angerufen, was
selten vorkam, höchst selten. Er hatte ihm von dem Theater erzählt, von seiner absurden Idee, in
München alles aufzugeben und nach Gmunden zurückzugehen, und mitten im Telefonat hatte er in
der Kasperlstimme zu sprechen begonnen, »Hey, Kinder, soll Valentin seinen Job aufgeben und mit
seinen Puppen durch die Provinz tingeln?«, und Leander empfand eine schmerzhafte Peinlichkeit und
wollte seinem Bruder raten, das mit dem Theater bitte bleiben zu lassen. Stattdessen sagte er:
»Probier es aus, gib dir mal ein Jahr!«, oder einen ähnlichen Schwachsinn. Wenn sich sein kleiner
Bruder schon mal bei ihm meldete und ihn in eine Lebensentscheidung einbinden wollte, würde er
ihn jedenfalls positiv unterstützen, so empfand er das. Egal wie furchtbar er kleine Bühnen für kleines
Publikum fand.
Leander öffnete die Gartentür und schlenderte über die Wiese zu seinem Vater und Valentin. Max
bemerkte ihn zuerst, ging ihm mit strahlendem Gesicht entgegen und umarmte seinen Sohn, der
einen halben Kopf größer war als er.
»Kommst du aus Salzburg?«
»Ja!«
»Mit dem Jaguar?«
»Ja, sicher!«
»Er geht noch?«
»Er geht noch, Papa.«
Leander schickte Valentin ein Augenzwinkern, das ihrem Vater galt; die Brüder umarmten sich.
Valentin sagte: »Keine Elektronik, die den Geist aufgibt!«
»Sie haben andere Sachen eingebaut, um kaputtzugehen«, sagte Leander. Dann wandte er sich an
seinen Vater und sagte: »Fahr doch mal eine Runde!«
Max nickte, als würde er das später sicher machen, aber alle drei wussten, es würde nie dazu
kommen.
Leander sah über den See und rief: »What a day!«
»… to get visit from the states!«, fuhr Max laut tönend fort.
»Setz dir mal eine Kappe auf«, sagte Valentin zu seinem Vater, dessen Stirn schon Röte aufgezogen
hatte.
»Mir macht das nichts«, sagte Max, »verwandelt sich gleich in Bräune!«
»Ich bin sicher, da verwandelt sich was …«, begann Valentin und nahm ein paar Pigmentflecken auf
der Glatze seines Vaters in Augenschein, aber Max sprach dazwischen: »Ich trage dauernd eine
Kappe, ja? Oder eine Haube oder einen Hut! Ihr würdet mich ja am liebsten ganz verschleiert sehen!
Aber ein bisschen Sonne halte ich aus, ja?«
»Schon gut«, sagte Valentin.
»Was ist mit Aino?«, sagte Leander, »kommt sie allein?«
»Du weißt ja gar nichts«, sagte Max, legte seinem Sohn den Arm über die Schulter und ging mit ihm
in Richtung Küche, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen.
Valentins Handy brummte, eine Nachricht von Sarah: »Das war nett gestern. Weil du gesagt hast, du
willst wieder mal auf den Traunstein: Ich würde morgen vielleicht rauf!«
Er hatte Lust, Sarah wiederzusehen, aber vor dem Berg hatte er Respekt, da musste er sich noch
vorbereiten. Zum Beispiel indem er ihn noch ein weiteres Jahr vom See aus anstarrte … Hatte er
wirklich gesagt, er würde gerne wieder mal auf den Traunstein?
Er setzte sich in die Wiese und überlegte, was er ihr antworten sollte. Er war komplett aus der Übung

Valentin stand mit seiner Mutter vor dem Bus. Sie hatte bei ihrer Ankunft gehupt, damit ihr jemand
half, den Kuchen hineinzutragen; er war zum Parkplatz geeilt, hatte sie geküsst und ihr das Backblech
abgenommen, und nun betrachtete sie den Kasperl am Bus und lächelte.
»Der ist aber schon sehr entzückend! Das ist sicher für den Mann, der das aufträgt, auch eine schöne
Abwechslung, oder? Nicht immer bloß Installationsservice Huber oder Malermeister Moosberger
oder was weiß ich …«
»Ich glaube, das ist denen wurscht.«
»Glaubst du? Hm, wahrscheinlich hast du recht, sie sind alle so pragmatisch …«
Monika war hier geboren, hatte die Region nie verlassen, trotzdem grenzte sie sich immer noch von
den Leuten hier ab, als wäre sie ein Kuckuckskind, nur durch einen seltsamen Zufall in diesem Winkel
der Welt aufgewachsen.
Sie betrachtete den Kasperl mit kindlichem Lächeln, dann holte sie ihre Kamera aus dem Wagen,
rückte ihren Sohn zu seinem Puppenlogo und schoss ein paar Fotos.
Monika war Fotografin, eine der ersten Frauen, die für die großen Zeitungen im Skizirkus fotografiert
hatte, später in der Werbung und in den vergangenen Jahren erfolgreich mit Porträtserien.
Gut sah seine Mutter aus, dachte Valentin. Sie trug die silberblonden Haare kürzer als früher. Und
schlank war sie, das intermittierende Fasten hatte ihr fast eine zweite Jugend geschenkt.
Seine Schwester Jola hatte Valentin erzählt, seine Mutter bekäme jede Menge Angebote von
Männern, auch von viel jüngeren. »Das hat sich überhaupt so geändert«, hatte Jola gesagt, »die
Männer reißen sich heute um reifere Frauen, da kann man eigentlich ganz gelassen in die Zukunft
sehen als Single-Frau! Männer dagegen, na ja, die lassen sich leicht gehen, und wenn sie dann auch
noch arm sind …« Und das war Jolas Überleitung gewesen, um Valentin zu raten, den Job in München
doch zu behalten, denn künstlerische Erfüllung hin oder her, Altersarmut sei keine Erfindung der
Medien, und wann habe er zuletzt einen alten Kasperltheatermanager im Porsche gesehen …
Monika sah ihren Sohn aufmunternd an und sagte: »Das macht dir jetzt richtig Freude, oder?«
Er musste fast lachen über den verniedlichenden Unterton und sagte bloß: »Es ist eine spannende
Zeit!«
»Ich würde dir wahnsinnig gerne Fotos machen«, sagte seine Mutter, und Valentin kam das in diesem
Moment vollkommen aufrichtig vor.
»Ja, bitte!«, sagte er.
»Du bist jetzt in einer ganz anderen Welt, oder? Kinder, Lachen, Kunst! Schön, dass du dir das noch
erschlossen hast!«
Er nickte. Sie hatte völlig recht, aber am Ende kam es ihm immer so vor, als wüsste sie besser, was er
zu fühlen hatte, als er selbst.
Monika packte ihre Kamera wieder in die Tasche, dann sah sie über Valentins Schulter in Richtung
Gartenzaun und fragte mit gedämpfter Stimme: »Wie kommt er dir denn vor?«
»Papa?«
»Ja.«
»Ganz normal.«
»Ja?«
»Ja. Wieso?«
Seine Mutter sah ihn an, als würde sie eigentlich gar nicht über die Sache reden wollen, aber dann
sagte sie: »Ich hab seine Freundin getroffen, sie hat sich ausgespieben über ihn.«
»Birgit? Ich dachte, sie wären nicht mehr …«
»Nein, sind sie auch nicht … Und sie versteht nicht, warum.«
»Hat er sich nicht erklärt?«
Sie lachte auf. »Nein, er hat sich nicht erklärt. Er hat sie wohl eher geghosted. So heißt das jetzt,
oder?«
»Ich glaube, so heißt das, ja.«
»Na ja, geht mich ja nichts an.«
Monika öffnete ihre Tasche und holte einen Schminkspiegel hervor. Sie zupfte an ihren Haaren herum
und legte ein paar Strähnen über ihre Ohren, in denen die Hörgeräte zu sehen waren.
Ein paar Augenblicke lang sagte Valentin nichts, er mochte es nicht, wenn seine Mutter etwas
Schlechtes über Max sagte, kein Kind wollte so etwas hören.
»Darf ich dich eigentlich verkuppeln?«, fragte seine Mutter plötzlich. »Da gibt es ein paar Töchter von
Freundinnen, die dich zufällig von Fotos her kennen und nicht gerade abgeneigt wären, mal in eines
der glamourösen Gmundner Abendlokale ausgeführt zu werden …«
»So wie die mit der Hundeschule?«
»Ha, nein! Nein, die würde ich dir nicht zumuten.«
Er sah seine Mutter mit unglücklicher Miene an, und sie sagte: »Vergiss es. Die sind auch alle
beschädigte Ware. Muss man einfach so sagen.«
»Gehen wir rein?«
»Ja, gehen wir rein.«
Leander hatte seinen Mantel über einen Barstuhl geworfen und half seinem Vater in der Küche, die
durch die offenen Verandatüren mit dem Garten verbunden war. Sie standen sich im Weg herum,
ärgerten sich über die Technik des jeweils anderen und setzten damit eine lange Vater-Sohn-Tradition
fort.
»Wo ist der Balsamico?«, fragte Leander.
»Wenn du jetzt schon Balsamico auf die Bruschetta gibst, ertränkst du sie«, sagte Max.
»Balsamico-Crema sickert nicht ins Brot!«
»Aber dieser ist keine Crema, sondern ein Balsamico Tradizionale mit einer hohen, aber nicht zu
hohen Dichte, und er tut genau das: Er sickert!«
»Dann kauf einen vernünftigen!«
»Ich bekomm meinen Balsamico von Hilde und Gerhard von ihrem Händler in Barberino Val D’Elsa,
der ist geschmacklich höherstehend als alles, was du beim Spar oder auch bei dem überteuerten
Delikatessenladen in Gmunden kriegst!«
»Aber er sickert!«
»Weil er … ach, mach was anderes, bitte!«
»Soll ich schon das Carpaccio schneiden?«
»Ungern. Aber ja.«
»Mit dem Messer kann ich nicht arbeiten.«
»Das ist ein neues Keramikmesser!«
»Ich hätte meine mitbringen sollen …«
Valentin stand inzwischen mit dem Backblech in der Hand in der offenen Tür und sah seinem Bruder
und seinem Vater hingerissen dabei zu, wie sie sich um jeden Handgriff stritten. Monika trat an ihm
vorbei ins Haus und sah sich irritiert um.
»Du hast ausgemalt! In Farben, die nicht weiß sind.«
Max eilte auf Monika zu, küsste sie auf den Mund, worauf sie Valentin einen verdutzten Blick zuwarf.
Nach zwei Jahren Corona wusste anscheinend niemand mehr, ob man sich in den seligen Zeiten davor
auf die Wange oder den Mund geküsst, ob man sich mit einer Umarmung oder einem Handschlag
begrüßt hatte. Max und Monika jedoch hatten seit ihrer Scheidung nichts davon getan: Sie standen
üblicherweise einfach voreinander und sagten sich zur Begrüßung, was sie vom Aussehen ihres
Gegenübers hielten. Aber jetzt verteilte Max nonchalant Küsse auf den Mund, als wäre es immer nur
seine Entscheidung gewesen, zur Begrüßung auf Distanz zu bleiben …
»Das ist Kalkfarbe«, sagte Max. »Eine Verneigung vor dem alten Kalkwerk unterm Stein, literarisch
gewürdigt bei unter anderem Ransmayr und Bernhard. Das Braun geriet anders als erwünscht.«
Er zeigte auf das schlammfarbene Sims, das die Küche vom Wohnbereich trennte.
»Du hättest mich fragen können, bevor du hier dekorativ
wirst …«, sagte Monika.
»Ich informiere dich ja auch nicht, wenn ich eine der tausend Ausbesserungs- und
Erhaltungsmaßnahmen im Haus durchführe«, sagte Max, und hinterließ damit einen Ausdruck der
Verwunderung auf den Gesichtern seiner Söhne, die bei jedem Besuch mehr den Eindruck gewannen,
das Haus bräuchte dringend mal eine Generalsanierung.

Ein Jahr mit einer Familie: Kossdorffs „Der glückliche See“

Der Roman „Der glückliche See“ von Jan Kossdorff bietet die Gelegenheit, eine in der Traunsee-Region lebende Familie durch das Jahr 2022 zu begleiten. Das mag trivial oder gar langweilig klingen, ist es aber ganz und gar nicht. Denn bei der Lektüre des jüngst im Milena-Verlag erschienenen Buches wird deutlich, was sich in einer drei Generationen umfassenden Familie in diesem Zeitraum alles tun kann – vor allem wenn es in diesem Zeitraum auch Corona und den Ukraine-Krieg gibt.
Kurz umrissen: Die Eltern sind in ihren Siebzigern und schon länger getrennt, sie haben bzw. finden im Laufe der Erzählung neue Partner. Die vier Kinder – zwei Männer und zwei Frauen, dazu gibt es zwei Enkelkinder – im Alter von Mitte dreißig bis Anfang fünfzig haben auch allesamt bewegte Beziehungsgeschichten hinter sich oder erleben sie gerade. Der Gatte der älteren Tochter etwa ist in der Corona-Zeit in die Schwurblerszene eingetaucht – massive Spannungen in der Beziehung als logische Folge.
Diskussionen über Zustände durch und Maßnahmen gegen Corona begleiten immer wieder die Erzählung, so wie es in den Pandemie-Jahren wohl in jeder Familie und in vielen Freundeskreisen der Fall war. Zugleich wird auch dem Kulturhauptstadt-Jahr 2024 im Salzkammergut Rechnung getragen - im Roman spielen die Vorbereitungen auf dieses ganzjährige Ereignis eine Rolle. Auch Putins Überfall auf die Ukraine, sprich Russlands Angriffskrieg gegen seinen Nachbarn, ist ein Thema, das immer wieder erwähnt wird. Naturgemäß fällt auch der Name Donald Trump mehrmals, selbst wenn dieser zum Zeitpunkt des Roman-Geschehens nicht US-Präsident war.
Die USA spielen in der Familiengeschichte insofern eine Rolle, als sich die jüngere Tochter in New York niedergelassen und sich dort in einen Mann – aus Salzburg – verliebt hat. Ihr Hin- und Hergerissensein zwischen Übersee und Traunsee, zwischen dem wieder in Österreich lebenden Freund und einer neuen Liebe in Nordamerika ist eine der Facetten, die sich durch den in vier Teile – vulgo Quartale – gegliederten Jahresablauf ziehen. Dazu kommen die Krebserkrankung des älteren Sohnes, die berufliche Veränderung des jüngeren Sohnes - der Aufbau und Betrieb eines Puppentheaters statt eines einträglichen, aber nicht mehr erfüllenden Jobs - und eine gleichgeschlechtliche Affäre der älteren Tochter, die sich von ihrem „Schwurbler-Gatten“ massiv entfremdet hat.
Die Eltern haben nach ihrer Trennung ein respektvolles Verhältnis zueinander gewahrt, der Mann wohnt gegen Miete an seine Ex-Frau, welcher das Haus direkt vor dem großen Felsen gehört, im einstigen Familienheim am See, wo es Anfang 2022 zum ersten großen Familientreffen seit Ausbruch der Pandemie kommt. Trotz Pensionsalters sind beide noch aktiv, die Frau als Fotografin, der einst in der Gastronomie tätige Mann eröffnet gemeinsam mit dem Dann-doch-nicht-Schwiegersohn (dem Salzburger Freund der jüngsten Tochter) ein Lokal mit dem Namen „Lacus felix“. Diese lateinische Bezeichnung für „der glückliche See“ wurde dem Traunsee tatsächlich einst von den Römern verliehen. A propos Vergangenheit der Region: Auch Thomas Bernhard, der viele Jahre in der Nähe von Gmunden gelebt hat, wird einige Male erwähnt.
Was diesen Roman so besonders macht, ist seine nachvollziehbare und sehr realistisch wirkende Story. Die Einbettung der durchaus abwechslungsreichen Familiengeschichte in reale gesellschaftliche und politische Gegebenheiten, aber auch in die sehr detailreich beschriebene Salzkammergut-Region. So können Leserinnen und Leser die Handlung immer wieder mit eigenen Erinnerungen und Erlebnissen aus dieser noch nicht lange zurückliegenden Zeit abgleichen, auch so manche Beziehungsgeschichte mag dem einen oder der anderen bekannt vorkommen – ebenso das Ringen mit sich selbst, wenn es eine richtungsweisende Entscheidung zu treffen gilt.
Somit entsteht der Eindruck, dass man bei der Lektüre eine große Familie ein Jahr lang begleitet – einige Rückblicke auf vergangene Zeiten und Spekulationen über die Zukunft inklusive –, die durchaus auch die eigene oder die Familie von Bekannten, Nachbarn oder Kollegen sein könnte. Der Roman macht deutlich, dass Leben immer auch Veränderungen beinhaltet, die manchmal steuerbar sind, manchmal nach einer Entscheidung verlangen, manchmal aber auch ungefragt über jemanden hereinbrechen. Und nicht alles, was einem widerfährt, muss man sich in seiner Vollständigkeit merken – wie ein Zitat mit einer Anspielung auf das heimische Politgeschehen untermalt: „Vergessen war keine Straftat, das lernte man doch aus den ganzen Untersuchungsausschüssen.“

News, April 2025

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