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€ 26.00
ISBN 978-3-903460-44-7
ca. 260 Seiten
gebunden mit SU und Leseband
Erscheint September 2025
Hydra
Wie erzählt man das eigene Leben so, dass es erträglich bleibt; was lässt man weg? Welche Löcher hat der Stoff, aus dem die Familienlegenden sind? Anne, eine Journalistin, wird mit der Vergangenheit ihrer Künstlereltern konfrontiert, sie muss erfahren, dass ihr Erbe auch stark aus deren Geschichten besteht.
Freitagabend in der Flughafenbar. Anne, die Hauptfi gur des Romans, ihr Freund Jacob und Leo, ein Barbesucher, haben dasselbe Ziel: Wien. Nachdem sie ihren Flug verpasst haben, besteht das Alternativprogramm in der letzten offenen Bar am Flughafen JFK aus Football und Whiskey. Da ereilt sie eine Notfallmeldung auf den Bildschirmen: Ein Flugzeug ist abgestürzt. Es wäre ihre Maschine gewesen.
In dieser Nacht schlafen die drei wenig, trinken viel, kommen sich näher, sprechen vom Schicksal. Ohne etwas Bedeutungsvolles zu wissen: dass bereits ihre Eltern sich kannten. Sie waren sogar eng befreundet, bis sie vor dreißig Jahren für ein Theaterprojekt auf die griechische Insel Hydra reisten. An diesem schönen Ort, frei von Autos und voll mit popkulturellen Mythen, ging etwas irreparabel schief.
Zurück in Wien konfrontiert Anne ihre Eltern mit Fragen zur Vergangenheit. Es
werden noch ein paar Vorhänge fallen, bevor Anne versteht, was ihre Eltern ihr da mitgegeben haben und wie sie selbst leben will.
Das Porträt einer Familie, die in sicherer Distanz zu existenziellen Problemen ihre privaten Dramen inszeniert. Ein sehr intelligenter, stilistisch feiner und spannender Roman.
Ihre Runde wechselte in eine Taverne abseits der Hafenpromenade, wieder wurden Tische für sie zusammengeschoben. Sie saßen nun inmitten weiß gekalkter Häuser auf einem kleinen belebten Platz. Die Blätter der alten Bäume bildeten ein dichtes Dach, unter dem die Stimmen der Gäste und die Hitze des Tages verschmolzen. Ioannis interessierte sich dafür, was sie gemacht hatten, bevor sie sein Wunsch auf diese Insel gebracht hatte. Er hatte die Gabe, jedem seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen und dabei fließend zum Nächsten überzuleiten. Das Essen kam und mehr Wein kam und die anderen baten Ioannis um seine Geschichten. Eva hörte von Salons und Kostümfesten, pensionierten Seefahrern und Schwammtauchern, berühmten Sängern, die ihre Gitarren auf die Insel gebracht und ihre Frauen hier gefunden hatten, als eine Monatsmiete vierzehn Dollar gekostet hatte oder auch gar nichts, wenn einem ein reicher Amerikaner das Haus überließ. Sie hörte von Schriftstellern, die winterlang bei einem Kapitel und vielen Whiskeys auf die Anwesen der Abwesenden aufpassten. Sie hörte von Männern, die mit schabenden Pinseln und Indigo, Ocker und Karmesin auf der Palette im Hafen die Männer malten, die sich Wassermelonen und Kisten mit Heizöl zuwarfen. Von Partys, auf denen jedes einzelne Glas im Haus zu Bruch ging, als Kompliment für die Tanzenden. Partys, wo die Einladungsliste nach einem Hollywood-Set klang, nach Cannes, nach der mondänen Welt, die auf den schroffen Felsen etwas fand, das es wert war, weitergesagt zu werden.
Eva wusste zuerst nicht, was es war, das sie unruhig machte. Es war nicht so sehr, dass die Insel in diesen Geschichten hauptsächlich von Männern bevölkert zu sein schien. Das war etwas, das sie wahrnahm, aber nachsah. Die Geschichten waren allesamt interessant, unterhaltsam. Dennoch hatte sie das unangenehme Gefühl, dass die Luft um sie herum dünner wurde. Es war nicht die Schuld des dichten Blätterdachs, das die Hitze zwischen den Häusern hielt. Sie hörte zu und lachte an den Stellen, die ihr passend schienen, während sie überlegte, dass diese Partys riesig gewesen sein mussten, wenn alle dabei gewesen waren, von denen es hieß, dass sie mitgefeiert hatten. Sie dachte daran, wie die Vergangenheit im Versinken an Masse gewann, wie ein Schneeball, der im Tal als Lawine endete, wo er Häuser und Menschen unter sich begrub. Versunken war die Vergangenheit, wenn sich Wochen, Monate, Jahre über ihr auftürmten, wenn sie unter all der Zeit lag, hart und kompakt wie das unterste Eisbrett in der Lawine. Wenn sie zu einem Damals wurde, das vielleicht noch einem Jahrzehnt, aber keinesfalls einem genauen Datum zugeordnet werden konnte, weil die Dinge sich in so großem Abstand zum Publikum zugetragen hatten, dass keiner der Zuhörenden vorgeben konnte, sie oder er wüsste, wie das gewesen wäre oder könnte die Party im Kalender nachschlagen. Damals.
Suzy erzählte, wie vor drei, vier Jahren ein Fernsehteam der BBC auf die Insel gekommen war, die Kamera hatte Leonard begleitet – ihren Freund Leonard –, sie war ihm gefolgt, als er zu seinem Haus hochgestiegen war, das er mittlerweile nur noch selten besuchte, das Haus, auf dessen Terrasse ihre Runde viele Stunden verbracht habe.
Eva dachte, dass ein Dokumentarfilm ein untrügliches Zeichen dafür war, dass sie zu spät gekommen waren. Sie überlegte, ob sie Suzy und Ioannis und ihren Freunden das Gefühl neidete, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein, ihre Zeitzeugenschaft. Sie schloss es nicht aus. Aber das alleine war es nicht. Sie merkte, sie kam langsam zum Kern der Sache. Sie schenkte sich nach und wusste nicht, ob der Alkohol dem Denken half. Das Rauchen schien jedenfalls zu helfen. Es war nicht so sehr, dass sie es nicht selbst erlebt hatte. Was ihr die Luft nahm, war der Gedanke, dass alles, was sie auf dieser Insel tun würden, eine Wiederholung oder bestenfalls Variation der Vergangenheit bleiben musste. So voll war es hier. Die Bilder und Erwartungen, die Melodien, die Geschichten von Familien, von Liebespaaren, Abschieden und Ankünften hatten eine Schicht gebildet, sie hatte sich auf Häuser, Treppen, Pflanzen, über die Katzen, Esel und Ikonen gelegt, wie ausgehärteter Gips. Die Oberfläche eines Mythos.
Arthur Miller war hier, hörte sie Suzy sagen. Suzys Stimme hatte sich verlangsamt, die einzelnen Worte schwammen hintereinander her und beanspruchten doppelt so viel Platz wie kleine Kinder mit großen Schwimmreifen.
Henry Miller, korrigierte sie Ioannis.
Ja, Henry, danke, mein Schatz. Nie was von ihm gelesen. Hexenjagd, nicht einmal das. Kommis jagen.
Das ist von Arthur Miller, fiel ihr Thomas ins Wort.
Ah, right, Suzy überlegte. Aber Henry Miller, sagte sie. Er war auf Hydra. Schrieb ein paar nette Sätze, auch nie selbst gelesen, mind you, aber es geht ungefähr so: Hydra ist wie die Pause in einer Komposition. Danach kann der Komponist eine neue Richtung einschlagen und es geht dann für ihn nur noch ums Ziel, nicht mehr um den Weg.
Umgekehrt, Suzy, sagte Ioannis sanft. Danach nur mehr der Weg, nicht das Ziel.
Nicht Millers originellste Zeilen, dachte Eva.
Suzy schien jetzt zu weinen. Ioannis beruhigte die Runde, das passiere manchmal. Eva spürte, wie unter dem Tisch etwas an ihrem Bein rieb. Sie dachte an die vielen Katzen, sah hoch, fing ein, zwei Blicke auf und war sich nicht mehr sicher. Kurz danach verlangte Ioannis die Rechnung.
Unreif auf der Insel
In ihrem Debütroman »Hydra« erzählt Antonia Löffler sprachgewaltig über
Schicksalsgemeinschaften, Zufälle und Lücken in der Familiengeschichte.
BREAKING NEWS. Die Menschen in der Bar heben die Köpfe. Auf den Fernsehschirmen sehen sie
Trümmer. Feuer. Ein Flugzeug ist abgestürzt. Alle Gespräche verstummen. Und dann sagt die Stimme
auf CNN, wohin das Flugzeug unterwegs war. Vienna, Austria. „Anne“, sagt Jacob. „Anne, wir haben unseren Absturz verpasst.“
Sie waren längst zu spät zum Flughafen gekommen, nicht einmal mehr ihren Last Call haben sie gehört. Weil Anne mit dem Mietauto zu spät beim Treffpunkt war. Sich mit der Zeit verschätzt hat. Dann in Manhattan beim Telefonieren mit Jacob keinen Blick auf das Navi gehabt hat. „Anne, das wird eng“, hat Jacob noch am Telefon gesagt.
Am JFK buchen sie einen Flug für den nächsten Tag, mieten ein Zimmer im Flughafenhotel, und dann geht es in die Bar am Terminal. „Ich wäre auch auf diesem Flug gewesen“, sagt ihr Sitznachbar. Als Leo stellt er sich vor. Gemeinsam verbringen sie die Nacht im Hotel. Leo erzählt, wie sein Vater einst mit dem Schiff in Bari anlegte und eine Kellnerin anflirtete, mit der er später ein Kind bekommen sollte. Und Anne erzählt von ihren Eltern, er Schauspieler, sie Regieassistentin, und wie sie einander bei einer Probe kennenlernten.
Wien, 1989. „Bleibst du sofort stehen“, ruft der Regisseur. Und Eva, die ihm eigentlich assistieren sollte, hat plötzlich ein Textbuch in der Hand. Sie muss die Rolle einer Schauspielerin lesen, die noch nicht bei der Probe aufgetaucht ist. Sie wird kurzatmig, ihre Stimme bricht – und als sie auf der Bühne aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht, hält sie der Figaro im Arm – Matthias.
Die Gruppe der Schauspieler ist es dann auch, um die sich der Großteil der Geschichte dreht. Denn sie reisen über den Sommer für ein Gastspiel auf – hier hat auch der Titel des Romans seinen Ursprung – die griechische Insel Hydra. Weil der Großvater eines der Schauspieler dort ein großes Haus hat. Und viel Geld, das er in Kultur steckt. Damit holt er sich immer wieder Schauspieler und Regisseure, die dort eine Inszenierung erarbeiten, für ein Gastspiel.
Gefährlich für Paare. Hydra, das ist mehr als nur eine Insel. Es ist ein Ort, der auch eine ganz eigene Dynamik hat. Neuankömmlingen, sagt eine Protagonistin, gebe sie immer einen Satz mit: Dass nämlich „Paare, die es schafften, nach Hydra noch zusammen zu sein, gute Chancen hätten, den Rest des Lebens miteinander zu verbringen“.
Es wird viel gefeiert auf Hydra. Und die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler amüsieren sich miteinander. Nicht immer werden die Grenzen besonders streng gezogen. Auch Eva und Matthias haben vereinbart, dass sie einander eine gewisse Freiheit zugestehen. Aber auch, dass sie einander nicht erzählen, wenn sie mit jemand anderem Spaß gehabt haben. Es ist vor allem Thomas, der beste Freund von Matthias, der sich für Eva zu interessieren beginnt. Er war es, der Eva mit dem Auto in den Süden gebracht hat, weil Matthias noch ein Engagement hatte und erst später nach Hydra kommen konnte. Erst konnten sie nicht viel miteinander anfangen. Doch die gemeinsame Fahrt, das Erleben, machte etwas mit ihnen.
Wer spielt welche Rolle? Antonia Löffler erzählt eine Familiengeschichte auf mehreren Ebenen. Zwischen mehreren Zeitschichten wechselt sie hin und her, so wie die Zeiten verändert sich auch so mancher Ich-Erzähler. Nach und nach entwirren sich die Verzweigungen, werden Lücken in der Familiengeschichte geschlossen und bekommt man eine Ahnung, wessen Geschichte gerade erzählt wird. Und welche Rolle eine Person auf einer der anderen Ebenen spielt.
Es ist vor allem ein sprachlich anspruchsvolles Debüt, das die 1991 geborene Autorin abliefert. Als Journalistin arbeitete sie in der Wirtschaftsredaktion der „Presse“, wechselte dann zu Ö1, daneben schreibt sie kleinere Beiträge und Kurzgeschichten. Mit ihrem ersten Roman betritt sie nun neues Terrain. Und das gleich mit einer ordentlichen Wucht – „Hydra“ steht in der Kategorie Debüt auf der Longlist für den Österreichischen Buchpreis.
Es ist ein Buch, bei dem man mitdenken muss. Aber auch eines, bei dem Mitdenken Freude macht. Und das das Dranbleiben mit so manchem Aha-Erlebnis belohnt.
Absolut lesenswert.
DIE PRESSE, 21.9.2025, Erich Kocina