€ 26.00

ISBN 978-3-903460-44-7
ca. 260 Seiten
gebunden mit SU und Leseband
Erscheint September 2025

Bestellen

Unsere Bücher sind natürlich auch ganz normal im Buchhandel erhältlich.

Wie erzählt man das eigene Leben so, dass es erträglich bleibt; was lässt man weg? Welche Löcher hat der Stoff, aus dem die Familienlegenden sind? Anne, eine Journalistin, wird mit der Vergangenheit ihrer Künstlereltern konfrontiert, sie muss erfahren, dass ihr Erbe auch stark aus deren Geschichten besteht.

Ö1 Lesetipp


Freitagabend in der Flughafenbar. Anne, die Hauptfi gur des Romans, ihr Freund Jacob und Leo, ein Barbesucher, haben dasselbe Ziel: Wien. Nachdem sie ihren Flug verpasst haben, besteht das Alternativprogramm in der letzten offenen Bar am Flughafen JFK aus Football und Whiskey. Da ereilt sie eine Notfallmeldung auf den Bildschirmen: Ein Flugzeug ist abgestürzt. Es wäre ihre Maschine gewesen.
In dieser Nacht schlafen die drei wenig, trinken viel, kommen sich näher, sprechen vom Schicksal. Ohne etwas Bedeutungsvolles zu wissen: dass bereits ihre Eltern sich kannten. Sie waren sogar eng befreundet, bis sie vor dreißig Jahren für ein Theaterprojekt auf die griechische Insel Hydra reisten. An diesem schönen Ort, frei von Autos und voll mit popkulturellen Mythen, ging etwas irreparabel schief.
Zurück in Wien konfrontiert Anne ihre Eltern mit Fragen zur Vergangenheit. Es
werden noch ein paar Vorhänge fallen, bevor Anne versteht, was ihre Eltern ihr da mitgegeben haben und wie sie selbst leben will.

Das Porträt einer Familie, die in sicherer Distanz zu existenziellen Problemen ihre privaten Dramen inszeniert. Ein sehr intelligenter, stilistisch feiner und spannender Roman.

Ihre Runde wechselte in eine Taverne abseits der Hafenpromenade, wieder wurden Tische für sie zusammengeschoben. Sie saßen nun inmitten weiß gekalkter Häuser auf einem kleinen belebten Platz. Die Blätter der alten Bäume bildeten ein dichtes Dach, unter dem die Stimmen der Gäste und die Hitze des Tages verschmolzen. Ioannis interessierte sich dafür, was sie gemacht hatten, bevor sie sein Wunsch auf diese Insel gebracht hatte. Er hatte die Gabe, jedem seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen und dabei fließend zum Nächsten überzuleiten. Das Essen kam und mehr Wein kam und die anderen baten Ioannis um seine Geschichten. Eva hörte von Salons und Kostümfesten, pensionierten Seefahrern und Schwammtauchern, berühmten Sängern, die ihre Gitarren auf die Insel gebracht und ihre Frauen hier gefunden hatten, als eine Monatsmiete vierzehn Dollar gekostet hatte oder auch gar nichts, wenn einem ein reicher Amerikaner das Haus überließ. Sie hörte von Schriftstellern, die winterlang bei einem Kapitel und vielen Whiskeys auf die Anwesen der Abwesenden aufpassten. Sie hörte von Männern, die mit schabenden Pinseln und Indigo, Ocker und Karmesin auf der Palette im Hafen die Männer malten, die sich Wassermelonen und Kisten mit Heizöl zuwarfen. Von Partys, auf denen jedes einzelne Glas im Haus zu Bruch ging, als Kompliment für die Tanzenden. Partys, wo die Einladungsliste nach einem Hollywood-Set klang, nach Cannes, nach der mondänen Welt, die auf den schroffen Felsen etwas fand, das es wert war, weitergesagt zu werden.
Eva wusste zuerst nicht, was es war, das sie unruhig machte. Es war nicht so sehr, dass die Insel in diesen Geschichten hauptsächlich von Männern bevölkert zu sein schien. Das war etwas, das sie wahrnahm, aber nachsah. Die Geschichten waren allesamt interessant, unterhaltsam. Dennoch hatte sie das unangenehme Gefühl, dass die Luft um sie herum dünner wurde. Es war nicht die Schuld des dichten Blätterdachs, das die Hitze zwischen den Häusern hielt. Sie hörte zu und lachte an den Stellen, die ihr passend schienen, während sie überlegte, dass diese Partys riesig gewesen sein mussten, wenn alle dabei gewesen waren, von denen es hieß, dass sie mitgefeiert hatten. Sie dachte daran, wie die Vergangenheit im Versinken an Masse gewann, wie ein Schneeball, der im Tal als Lawine endete, wo er Häuser und Menschen unter sich begrub. Versunken war die Vergangenheit, wenn sich Wochen, Monate, Jahre über ihr auftürmten, wenn sie unter all der Zeit lag, hart und kompakt wie das unterste Eisbrett in der Lawine. Wenn sie zu einem Damals wurde, das vielleicht noch einem Jahrzehnt, aber keinesfalls einem genauen Datum zugeordnet werden konnte, weil die Dinge sich in so großem Abstand zum Publikum zugetragen hatten, dass keiner der Zuhörenden vorgeben konnte, sie oder er wüsste, wie das gewesen wäre oder könnte die Party im Kalender nachschlagen. Damals.
Suzy erzählte, wie vor drei, vier Jahren ein Fernsehteam der BBC auf die Insel gekommen war, die Kamera hatte Leonard begleitet – ihren Freund Leonard –, sie war ihm gefolgt, als er zu seinem Haus hochgestiegen war, das er mittlerweile nur noch selten besuchte, das Haus, auf dessen Terrasse ihre Runde viele Stunden verbracht habe.
Eva dachte, dass ein Dokumentarfilm ein untrügliches Zeichen dafür war, dass sie zu spät gekommen waren. Sie überlegte, ob sie Suzy und Ioannis und ihren Freunden das Gefühl neidete, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein, ihre Zeitzeugenschaft. Sie schloss es nicht aus. Aber das alleine war es nicht. Sie merkte, sie kam langsam zum Kern der Sache. Sie schenkte sich nach und wusste nicht, ob der Alkohol dem Denken half. Das Rauchen schien jedenfalls zu helfen. Es war nicht so sehr, dass sie es nicht selbst erlebt hatte. Was ihr die Luft nahm, war der Gedanke, dass alles, was sie auf dieser Insel tun würden, eine Wiederholung oder bestenfalls Variation der Vergangenheit bleiben musste. So voll war es hier. Die Bilder und Erwartungen, die Melodien, die Geschichten von Familien, von Liebespaaren, Abschieden und Ankünften hatten eine Schicht gebildet, sie hatte sich auf Häuser, Treppen, Pflanzen, über die Katzen, Esel und Ikonen gelegt, wie ausgehärteter Gips. Die Oberfläche eines Mythos.
Arthur Miller war hier, hörte sie Suzy sagen. Suzys Stimme hatte sich verlangsamt, die einzelnen Worte schwammen hintereinander her und beanspruchten doppelt so viel Platz wie kleine Kinder mit großen Schwimmreifen.
Henry Miller, korrigierte sie Ioannis.
Ja, Henry, danke, mein Schatz. Nie was von ihm gelesen. Hexenjagd, nicht einmal das. Kommis jagen.
Das ist von Arthur Miller, fiel ihr Thomas ins Wort.
Ah, right, Suzy überlegte. Aber Henry Miller, sagte sie. Er war auf Hydra. Schrieb ein paar nette Sätze, auch nie selbst gelesen, mind you, aber es geht ungefähr so: Hydra ist wie die Pause in einer Komposition. Danach kann der Komponist eine neue Richtung einschlagen und es geht dann für ihn nur noch ums Ziel, nicht mehr um den Weg.
Umgekehrt, Suzy, sagte Ioannis sanft. Danach nur mehr der Weg, nicht das Ziel.
Nicht Millers originellste Zeilen, dachte Eva.
Suzy schien jetzt zu weinen. Ioannis beruhigte die Runde, das passiere manchmal. Eva spürte, wie unter dem Tisch etwas an ihrem Bein rieb. Sie dachte an die vielen Katzen, sah hoch, fing ein, zwei Blicke auf und war sich nicht mehr sicher. Kurz danach verlangte Ioannis die Rechnung.

„So long, Marianne“: Mit Cohen im Ohr geht es in diesem Erstling nach Griechenland. Wenn es heißt „Ist ein Dreieck noch ein Dreieck, wenn seine Ecken voneinander wissen?“, ist das keine philosophische Frage des Pythagoras. Sondern weist auf ein Beziehungsschlamassel hin, das an eine antike Tragödie erinnern soll.
Anne verpasst den Flieger aus New York. In der Flughafenbar hört sie die Breaking News: Das Flugzeug ist abgestürzt. Mit dem italienischen Schicksalsgenossen Leo und einer Flasche Whisky macht Anne die Nacht durch. Leo entpuppt sich als Teil ihrer Familiengeschichte, die aus Lüge, Schicksal und Schauspiel gesponnen ist. Löfflers Debüt punktet mit einer Leiche im Fischernetz, einer exzentrischen Großmutter, Wortneuschöpfungen wie „Pelargonienstille“ und witzigen Doppeldeutigkeiten.

Falter, Juliane Fischer, November 2025



Hydra: Ein verpasster Flugzeugabsturz und ein missglücktes Drama von vor 30 Jahren

Der Verlag bringt es selbst auf den Punkt, wenn er den Debüt-Roman von Antonia Löffler mit dem Satz ankündigt: „Das Porträt einer Familie, die in sicherer Distanz zu existenziellen Problemen ihre privaten Dramen inszeniert.“ Willkommen in der Welt des gut versorgten Bürgertums, das sich in Österreich nicht allzu sehr von dem in Deutschland unterscheiden wird. Damit mal ein bisschen Drama in das Leben der Protagonisten kommt, muss schon ein Flugzeug abstürzen. Das Anne und Jakob gerade verpasst haben.
Eigentlich ein schöner Auftakt für eine große Geschichte vom Beinah. Wie geht man damit um, wenn das Ende auf einmal so unübersehbar ins eigene Leben hineinkracht? Was richtet das mit einem an? Oder mit den Beziehungen, die zwei Menschen miteinander haben? Oder drei, denn ein gewisser Leo schiebt sich an der Bar noch hinein in die nicht ganz einfache Beziehung von Anna und Jakob, die nach diesem Ausflug nach New York scheinbar in die Binsen geht.
Oder wie es Mädchen wie Anna so gern ausdrücken: „Ich brauche mal ein bisschen Abstand.“ Da zieht sie lieber wieder zu ihren Eltern zurück, die ihrerseits ganz offensichtlich in einer mehr als schwierigen Beziehungskiste stecken. Die Mutter ist Regieassistentin und praktisch den ganzen Tag außer Haus, der Vater Schauspieler. Aber der hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und versucht irgendwie die Ereignisse zu rekonstruieren, die vor 30 Jahren auf der griechischen Insel Hydra passiert sind. Da waren Matthias und Eva schon ein Paar, lebten aber irgendwie das, was manche Leute „eine offene Beziehung“ nennen.
Jeder in seiner Rolle
Antonia Löffler macht es ihren Lesern wirklich nicht leicht, irgendeine Person aus diesem kleinen Kosmos der unausgesprochenen Dinge gern zu haben. Da wird zwar viel geredet, auch über Gefühle und Befindlichkeiten. Aber tatsächlich vermeiden sie es alle, wirklich zum Kern zu kommen.
Oder verklausulieren das Geschehene im eigenen Kopf, so wie es auch Matthias macht, der zwar den wild entschlossenen Autor spielt, der nun endlich in seiner abgeschlossenen Kemenate versucht, das Geschehene vor 30 Jahren wirklich zu entschlüsseln. Seine Textfragmente hat Antonia Löffler mit eingestreut. Aber er geht so an die Sache, als wäre er selbst nicht wirklich dabei gewesen, sich selber fremd.
So wie sich ganz offensichtlich eine Menge Leute selbst fremd sind. Statisten ihres eigenen Lebens. Bemüht, die Dinge nicht wirklich beim Namen zu nennen. Nur nicht dran rühren. Aber Eva ist Journalistin und hält dieses Beschweigen eigentlich nicht aus und macht sich selbst auf die Suche, treibt den alten Regisseur auf, der damals mit der jungen Schauspielertruppe auf Hydra Henrik Ibsens „Die Wildente“ inszenieren wollte. Als Liebhaberstück für einen schwerreichen Gastgeber.
Schon auf der Fahrt nach Süden in einem alten, klapprigen Auto hat Eva den etwas spröden Freund von Matthias, Thomas, kennengelernt, der schon bald auf Hydra mit seiner abweisenden Art dafür sorgen würde, die Stimmung in dieser auf der Insel gelandeten Truppe knistern zu lassen. Eva hatte seine abweisende Art ja schon im Auto erlebt. Auf Hydra kulminiert es zwar nicht, denn Thomas verschwindet einfach, nachdem er seinen Kumpel Matthias noch zum Wettschwimmen im Meer eingeladen hat. Sein Sprung ins Wasser ist das Letzte, was Mathias noch sah.
Was ist passiert?
Das ist auch 30 Jahre später noch nicht klar. Und viel klarer wird es auch nicht, nachdem Anna ihre Mutter und selbst ihre Großmutter versucht hat, zur Rede zu stellen. Im Grunde ändert sich seit der Konstellation auf dem New Yorker Flughafen nichts. Eher bekommt Anna so erst richtig mit, wie sehr das ganze Familienkonstrukt auf Schweigen aufgebaut ist.
Lieber schließt man die Türen oder versucht Begegnungen zu vermeiden, als sich wirklich auf Gespräche einzulassen. Gewusst hatte Anna das zwar auch schon vorher und wäre lieber ins Haus ihrer schwerreichen Großmutter gezogen, die sie im Lauf ihrer Suche auch mehrmals besucht. Aber die alte Dame beweist ihr, wie leicht es ist, mit Stil und Strenge gar nichts zu erzählen.
Hauptsache Drama
Arme Kinder, die in solchen Familien aufwachsen. Aber es kommt einem eben dennoch bekannt vor. Weil es die ganze gehobene Gesellschaft durchzieht. Man verbirgt die Unfähigkeit zu wirklicher Nähe hinter großem Drama. Obwohl die Großmutter selbst etwas zu verbergen hat, das wieder mit der alten Geschichte auf Hydra zu tun hat.
Anna will am Ende selbst nach Hydra fahren, als wenn sie dort der alten Geschichte näher kommen könnte. Aber vor der Überfahrt mit der Fähre geht ihr die Lust aus auf diese alte Geschichte, bei der auch die Leser mit diversen Rätseln allein gelassen werden. Will man denn alles wissen, was einst geschah?
Die Antwort lautet natürlich: Ja.
Aber Anna hat ja nun genug herumgefragt und wurde von ihren Eltern und der Großmutter behandelt wie ein kleines Kind, das zu viele Fragen stellt. Fragen, die an die ganzen kleinen Selbstinszenierungen rühren, in denen sich die Älteren eingerichtet haben. Das Leben: ein Schauspiel, in dem man seine Rolle spielt.
Und Kinder eigentlich nichts Besseres tun können, als auf Distanz zu gehen – so wie es Annas Geschwister-Zwillinge schon lange getan haben. Wer zurückkehrt in so ein Elternhaus, gerät nur in die alten Inszenierungen einer Beziehung, von der man nicht recht weiß, auf welcher Basis sie eigentlich noch funktioniert. Oder jemals funktioniert hat.
Was trägt einen?
Am Ende weiß man zwar, warum aus der Ibsen-Inszenierung auf Hydra nichts geworden ist. Aber die Geschichte rekonstruiert nicht Anna selbst, denn ihre „Interview“-Partner zeigen sich ja regelrecht geübt, den Fragen auszuweichen. Die Rückblenden auf die Ereignisse auf Hydra erzählt allein die Autorin. Sie blendet zwischen den Zeitebenen hin und her.
Und man sucht vergeblich nach jenem Kitt, der die Eltern von Anna tatsächlich zusammengehalten hat. Worauf bauen tatsächlich Beziehungen auf? Oder verstecken sich Menschen tatsächlich in ihren Rollen, die sie dann auch vor den Kindern ein Leben lang spielen, ohne dass sichtbar wird, ob sie es tatsächlich sind?
Für Kinder wie Anna natürlich ein verstörendes Erleben. Als hätte sie es mit völlig wildfremden Menschen zu tun. Gut möglich, dass das vielen Kindern so geht, wenn sie das Leben ihrer Eltern einmal mit etwas Distanz betrachten. Einer Distanz, zu der es die Fahrt nach Hydra gar nicht braucht.
Denn letztlich geht es Anna um ihr eigenes Problem – ihr Verhältnis zu Jacob und die letztlich elementare Frage, worauf Liebe und Partnerschaft eigentlich aufbauen. Was trägt einen gemeinsam durchs Leben? Was schafft diese Quäntchen Vertrauen, das einem Halt gibt, wenn es mal brenzlig wird?
Oder spielen wir einfach unser eingeübtes Drama weiter, immer schön in der Rolle, die wir uns ausgesucht haben? Haben wir uns die ausgesucht? Da läuft Anna die ganze Zeit der seltsamen Geschichte, die auf Hydra passiert ist, hinterher. Aber wie will man Antworten bekommen, wenn sich die Alten in ihren Selbsterzählungen gefallen?
Eher ist es erstaunlich, wie lange Anna sich das gefallen lässt. Aber manchmal braucht es wohl diese toten Punkte, an denen man unverhofft aus dem Gleis gerät, an der Mole sitzt und der letzten Fähre nach Hydra hinterher sieht und das starke Gefühl hat, dass es jetzt reicht mit den alten Geschichten.
Und man vielleicht mal jemand Anderen wieder anrufen sollte.

Leipziger Zeitung, Ralf Julke, 7. Oktober 2025


Es ist eine dieser Geschichten wie aus schlechten Romanen. Ein Paar verabredet sich auf dem New Yorker Flughafen. Doch die Frau verspätet sich, hat sich von einem beruflichen Termin nicht rechtzeitig losgeeist und den höllischen Verkehr unterschätzt. Sie kommt zu spät am John F. Kennedy International Airport an: Das Boarding für die Maschine nach Wien ist abgeschlossen und der Flieger kurz darauf in der Luft. Äußerst ärgerlich. Neue Flüge müssen gebucht und die Stunden bis zum Einchecken totgeschlagen werden. Die Passagiere hängen an den Gates herum, als sie breaking news aufschrecken: Der Flieger nach Wien ist abgestürzt.
Formen des magischen Denkens kennen wir fast alle: Was wäre wenn? Schon eine winzige falsche Entscheidung kann unserem Leben eine fatale Wendung geben. Antonia Löffler spielt ein derartiges Szenario durch. Ihr Erstling „Hydra“ setzt sich den Zufällen des Lebens auf die Spur und dem Schicksal, das oft gefährlich nah beim Wahnsinn wohnt. Zugleich taucht ihr Buch in Familiengeheimnisse ab. In ihnen sitzen die nachfolgenden Generationen fest, sofern es ihnen nicht gelingt, das Dickicht von Verdrängung und Vertuschung zu durchdringen.
Auch Hauptfigur Anne spürt eine Fremdheit zwischen sich und ihren Eltern, die ihre emotionalen Energien lähmt. Unter diesen Vorzeichen will sich das Glück darüber, dem Tod von der Schaufel gesprungen zu sein, nicht recht einstellen. Zudem kriselt es in Annes Beziehung zu ihrem Freund Jacob. Entsprechend mühsam droht die Nacht am New Yorker Flughafen zu werden. Zusammen mit einer Bekanntschaft namens Leo, einem jungen Mann aus Italien, schlägt sie die Zeit tot. Der Alkohol fließt, Anne und Leo fühlen sich auf rätselhafte Weise zueinander hingezogen, ehe sie in unterschiedliche Richtungen davonziehen. Doch ein unsichtbares Band verbindet die beiden über den Abschied am Gate hinaus: Es reicht weit in die Biographien ihrer Eltern zurück.
Und da ist er abermals, der Zufall. Er setzt Antonia Löfflers Roman rasant in Gang und baut einen festen Spannungsbogen auf. Leo bleibt zwar eine Nebenfigur, aber wir Leserinnen und Leser ahnen, dass in ihm die Schlüssel zu Ereignissen stecken, die tief in der Vergangenheit wurzeln.
Als Anne im zweiten Anlauf sicher in Wien landet, scheint nichts mehr wie vorher. Die knapp Dreißigjährige verordnet sich eine räumliche Trennung von Jacob und zieht mit einem Koffer in ihr früheres Kinderzimmer zurück. Während sie desorientiert durch den Alltag schlittert und versucht, nach dem Schock ihres Beinahe-Todes im Flugzeug wieder festen Boden unter ihren Füßen zu gewinnen, ist ihr Vater Matthias wie besessen dabei, mit quälenden Ungereimtheiten seines Lebens aufzuräumen.
Gut dreißig Jahre sind verstrichen seit jenem Sommer auf Hydra, der ihm und seiner Frau Eva im Kopf herumspukt. Auf Einladung eines Mäzens ist damals eine Gruppe von Theaterleuten nach Griechenland gereist, um gemeinsam die „Wildente“ von Henrik Ibsen auf die Bühne zu bringen. Morgens probt man, in der Nachmittagshitze vergnügt sich die Gesellschaft am Strand oder zieht sich zur Siesta zurück. Abends folgen gemeinsame Essen mit ausgiebigen Gelagen und Kostümfesten. Und über dem Haufen euphorischer Charaktere thront Gott Ibsen mit der Frage nach Wahrheit und Lebenslüge: Sie ist Thema heftiger Diskussionen zwischen den berauschten, nicht nur von den Temperaturen aufgewühlten Künstlern.
Bald schon ist klar: Hydra wird vor und hinter dem Vorhang zum Experimentierfeld. Die Paare machen sich in jenen Tagen ohnehin ins Abenteuer auf. Die Kleinfamilie hat ausgedient, und mit ihr gilt die Treue innerhalb der Paarbeziehung als Inbegriff bürgerlicher Enge. Annes Eltern haben sich für eine offene Ehe entschieden und gestehen einander Freiheiten zu: eine Laborsituation mit überraschendem Ausgang.
Antonia Löffler weiß die Stimmung jener Wochen plastisch und packend zu schildern. Sie jongliert mit mehreren Zeit- und Erzählebenen und schafft damit einen vielschichtigen Roman, der mit Hilfe mysteriöser Andeutungen unsere Neugier schürt. Matthias ruft sich die Atmosphäre des Fiebrig-Flirrenden zurück, wie sie auf Hydra fatale Verstrickungen auslöst. Zugleich aber trifft die Irritation, die tief in ihm verborgen ist, auf die zunehmende Desorientierung seiner Tochter.
Hydra wird zum Kulminationspunkt eines Dramas: Während die Proben des Stückes auf die Premiere zulaufen, verschwimmen die Grenzen zwischen Kunst und Leben. Eva und Matthias erwachen jäh aus ihren Träumereien, als einer der Akteure plötzlich verschwindet und nie mehr gesehen ward. Matthias trauert: Mit dem vermeintlich Toten hat er seinen besten Freund verloren, mit dessen Gefährtin er eine Affäre unterhalten hat. Und wer weiß, möglicherweise hat sich der solcherart bitter Betrogene deshalb davongemacht? Ein Gedanke, der Matthias quält. Eine Schuld mit langem Schatten, wie auch Tochter Anne bemerkt, je tiefer sie sich in die Geschichten ihrer Eltern vergräbt und unversehens wieder auf Leo trifft.
Antonia Löfflers Roman trägt Züge einer griechischen Tragödie. Und doch zieht er mit Leichtigkeit dahin und bleibt anregend und süffig. Das Skurrile des Schicksals und das Labyrinth familiärer Geheimnisse besitzen komische Seiten und etliche der Charaktere ein gehöriges Maß an höchst unterhaltsamer Selbstironie und Widerspenstigkeit. Das nimmt dem Thema die Wucht.
„Unsere wirklich wichtigen Entscheidungen haben die Eigenheit, sich erst aus der Distanz erkennen zu geben“, liest man bei Antonia Löffler. So wie unser aller Leben in Schlangenlinien auf jene Kreuzungen zuläuft, wo Hydra, das vielköpfige Ungeheuer, darauf wartet, uns von der ursprünglichen Route in neue Richtungen zu locken. Wohin dieser Weg dann führen mag – in die Irre oder auf den für uns rechten Pfad.

ORF – EX LIBRIS, Susanne Schaber, Oktober 2025


Unreif auf der Insel

In ihrem Debütroman »Hydra« erzählt Antonia Löffler sprachgewaltig über
Schicksalsgemeinschaften, Zufälle und Lücken in der Familiengeschichte.

BREAKING NEWS. Die Menschen in der Bar heben die Köpfe. Auf den Fernsehschirmen sehen sie
Trümmer. Feuer. Ein Flugzeug ist abgestürzt. Alle Gespräche verstummen. Und dann sagt die Stimme
auf CNN, wohin das Flugzeug unterwegs war. Vienna, Austria. „Anne“, sagt Jacob. „Anne, wir haben unseren Absturz verpasst.“
Sie waren längst zu spät zum Flughafen gekommen, nicht einmal mehr ihren Last Call haben sie gehört. Weil Anne mit dem Mietauto zu spät beim Treffpunkt war. Sich mit der Zeit verschätzt hat. Dann in Manhattan beim Telefonieren mit Jacob keinen Blick auf das Navi gehabt hat. „Anne, das wird eng“, hat Jacob noch am Telefon gesagt.
Am JFK buchen sie einen Flug für den nächsten Tag, mieten ein Zimmer im Flughafenhotel, und dann geht es in die Bar am Terminal. „Ich wäre auch auf diesem Flug gewesen“, sagt ihr Sitznachbar. Als Leo stellt er sich vor. Gemeinsam verbringen sie die Nacht im Hotel. Leo erzählt, wie sein Vater einst mit dem Schiff in Bari anlegte und eine Kellnerin anflirtete, mit der er später ein Kind bekommen sollte. Und Anne erzählt von ihren Eltern, er Schauspieler, sie Regieassistentin, und wie sie einander bei einer Probe kennenlernten.
Wien, 1989. „Bleibst du sofort stehen“, ruft der Regisseur. Und Eva, die ihm eigentlich assistieren sollte, hat plötzlich ein Textbuch in der Hand. Sie muss die Rolle einer Schauspielerin lesen, die noch nicht bei der Probe aufgetaucht ist. Sie wird kurzatmig, ihre Stimme bricht – und als sie auf der Bühne aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht, hält sie der Figaro im Arm – Matthias.
Die Gruppe der Schauspieler ist es dann auch, um die sich der Großteil der Geschichte dreht. Denn sie reisen über den Sommer für ein Gastspiel auf – hier hat auch der Titel des Romans seinen Ursprung – die griechische Insel Hydra. Weil der Großvater eines der Schauspieler dort ein großes Haus hat. Und viel Geld, das er in Kultur steckt. Damit holt er sich immer wieder Schauspieler und Regisseure, die dort eine Inszenierung erarbeiten, für ein Gastspiel.
Gefährlich für Paare. Hydra, das ist mehr als nur eine Insel. Es ist ein Ort, der auch eine ganz eigene Dynamik hat. Neuankömmlingen, sagt eine Protagonistin, gebe sie immer einen Satz mit: Dass nämlich „Paare, die es schafften, nach Hydra noch zusammen zu sein, gute Chancen hätten, den Rest des Lebens miteinander zu verbringen“.
Es wird viel gefeiert auf Hydra. Und die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler amüsieren sich miteinander. Nicht immer werden die Grenzen besonders streng gezogen. Auch Eva und Matthias haben vereinbart, dass sie einander eine gewisse Freiheit zugestehen. Aber auch, dass sie einander nicht erzählen, wenn sie mit jemand anderem Spaß gehabt haben. Es ist vor allem Thomas, der beste Freund von Matthias, der sich für Eva zu interessieren beginnt. Er war es, der Eva mit dem Auto in den Süden gebracht hat, weil Matthias noch ein Engagement hatte und erst später nach Hydra kommen konnte. Erst konnten sie nicht viel miteinander anfangen. Doch die gemeinsame Fahrt, das Erleben, machte etwas mit ihnen.

Wer spielt welche Rolle? Antonia Löffler erzählt eine Familiengeschichte auf mehreren Ebenen. Zwischen mehreren Zeitschichten wechselt sie hin und her, so wie die Zeiten verändert sich auch so mancher Ich-Erzähler. Nach und nach entwirren sich die Verzweigungen, werden Lücken in der Familiengeschichte geschlossen und bekommt man eine Ahnung, wessen Geschichte gerade erzählt wird. Und welche Rolle eine Person auf einer der anderen Ebenen spielt.
Es ist vor allem ein sprachlich anspruchsvolles Debüt, das die 1991 geborene Autorin abliefert. Als Journalistin arbeitete sie in der Wirtschaftsredaktion der „Presse“, wechselte dann zu Ö1, daneben schreibt sie kleinere Beiträge und Kurzgeschichten. Mit ihrem ersten Roman betritt sie nun neues Terrain. Und das gleich mit einer ordentlichen Wucht – „Hydra“ steht in der Kategorie Debüt auf der Longlist für den Österreichischen Buchpreis.
Es ist ein Buch, bei dem man mitdenken muss. Aber auch eines, bei dem Mitdenken Freude macht. Und das das Dranbleiben mit so manchem Aha-Erlebnis belohnt.
Absolut lesenswert.

DIE PRESSE, 21.9.2025, Erich Kocina

Top